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“Bild” und Hitlers Badewanne

Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.

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Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Das Drei-Millionen-Dollar-Märchen

Um ihre spektakulären Schlagzeilen zu konstruieren, braucht die “Bild”-Zeitung nicht viel. Manchmal genügt ein kleines Stück altes Papier.

„Es ist nur ein kleines Stück altes Papier, doch es kann ihr Leben verändern!“, schreibt die Dresdner “Bild”-Regionalausgabe im Herbst 2012.1 Auf einem Flohmarkt hätten Rentner Herbert und Lebensgefährtin Astrid (Namen geändert) einen Schwung alter Briefmarken gekauft. „Als ich diese auf dem Küchentisch ausbreitete, stockte mir der Atem!“, sagt Opa Herbert. Denn vor ihm liegt allem Anschein nach eine absolute Rarität: eine blaue One-Cent-Briefmarke mit dem Konterfei von Benjamin Franklin und einem eingepressten Muster, dem sogenannten „Z Grill“. Sie ist eine der seltensten Briefmarken der Welt, bisher sind lediglich zwei Exemplare bekannt (zum Vergleich: von der „Blauen Mauritius“ existieren noch zwölf2). Darum beträgt der Katalogwert der „Z Grill“ auch stolze drei Millionen Dollar.3

Ob Opa Herbert auf seinem Küchentisch genau diese Marke liegen hat, muss aber erst noch geprüft werden. „Das Echtheitszertifikat kann in diesem Fall jedoch nur die ‚Philatelic Foundation‘ in New York ausstellen“, zitiert “Bild” einen Briefmarkenexperten. Doch da gibt es einen Haken. Opa Herbert: „Ich habe nur 600 Euro Rente. Damit kann ich mir die Reise und die Prüfgebühr nicht leisten.” Verzweifelt suche er jetzt einen Sponsor, schreibt “Bild”, und damit endet der Artikel.

Dann passiert ein paar Tage lang gar nichts. Doch als plötzlich die britische “Daily Mail” über den Fall berichtet4, erkennt “Bild” offenbar das Potenzial der Story und hebt sie groß in die Bundesausgabe: „SAMMLERGLÜCK! Rentner findet 2,5-Mio.-Briefmarke auf dem FLOHMARKT“.5 Nun springen auch andere nationale und internationale Medien auf und berichten über die „Sammlersensation vom Flohmarkt“.6 Ob es sich bei der Briefmarke wirklich um das seltene Stück handelt, stehe aber immer noch nicht fest, schreibt “Bild”: „Offiziell muss die Echtheit der One-Cent-Marke noch von der ‚Philatelic Foundation‘ in New York bestätigt werden. Ohne ein Zertifikat dieser Stiftung kann die Marke nicht in einem Auktionshaus verkauft werden.“

Und dank der bundesweiten Aufmerksamkeit gibt es für die „Briefmarken-Millionäre“, wie “Bild” sie schon nennt, eine gute Nachricht: Ein Verlag für Briefmarkenzubehör bietet an, die Reisekosten nach New York zu übernehmen. Opa Herbert beantragt sofort einen neuen Reisepass: „Mein alter ist fast abgelaufen, genügt für den Flug nach New York nicht mehr.“7

Drei Wochen später ist es dann so weit: Endlich treten Opa Herbert und der “Bild”-Reporter die langersehnte Reise an. Endlich kann die Briefmarke auf Echtheit geprüft werden. Endlich geht es mit dem Flugzeug nach: London. „Jetzt brachte er seine Marke persönlich nach London – zur Wertermittlung. BILD begleitete ihn!“

Nanu? Statt in die USA fliegen sie auf einmal nach England. Und legen die Marke nicht der „Philatelic Foundation“ in New York, sondern der „Royal Philatelic Society“ in London vor. Eine Erklärung für den plötzlichen Kurswechsel liefert “Bild” nicht.

Der Grund ist aber nicht schwer zu erraten. Denn in New York wäre ihnen etwas dazwischengekommen, das der sensationellen Berichterstattung ein schnelles Ende bereitet hätte: die Wahrheit.

Schon einen Tag nachdem “Bild” zum allerersten Mal über den Fall berichtet hatte, also lange bevor die “Bild”-Maschinerie so richtig anlief, hatte die New Yorker „Philatelic Foundation“ bereits öffentlich und sehr eindeutig erklärt, dass die Briefmarke nicht die erhoffte Rarität sei: „Wir haben ihm [Opa Herbert] mitgeteilt, dass es nicht der Z-Grill ist“, sagte David Petruzelli von der Foundation gegenüber der amerikanischen “Huffington Post”, die den Fall in der “Bild”-Zeitung entdeckt und dann bei der Foundation nachgefragt hatte. 8 „Er hat uns einen guten Scan davon zugeschickt. Es ist nicht die Briefmarke“, so das Ergebnis der Experten. Der Mann solle sich nicht damit herumquälen, einen Sponsor zu suchen und nach New York zu fliegen. Das hätten schon viele Sammler getan und seien dann enttäuscht worden. Die Marke von Opa Herbert sei es nicht mal wert, daran zu lecken, jedenfalls nicht im Vergleich zu drei Millionen Dollar. „Ich habe mein Bestes gegeben, ihm zu erklären, dass es nicht die Briefmarke ist. Wir wollten nicht, dass er sich die Mühe macht.” Der Fund sei wahrscheinlich nicht der „Z Grill“, sondern ein „F Grill“. Er schätze den Wert auf unter hundert Dollar.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften die Leute von “Bild” also gewusst haben, dass an der Geschichte nichts dran ist. Doch statt ihre Leser darüber aufzuklären, geben sie sich erst richtig Mühe, das Märchen von der „Millionen-Marke“ als Wahrheit zu verkaufen. So zitieren sie (eine Woche nachdem der New Yorker Experte erklärt hatte, dass es nicht die besagte Briefmarke sei) unter der Überschrift: „Profis von Millionen-Marke begeistert“ einen deutschen Gutachter mit den Worten: „Sie ist zu 99 Prozent echt, womöglich wertvoller als die Blaue Mauritius. Eine Fälschung ist unwahrscheinlich.“9

Derselbe „Gutachter“ erklärt jedoch wenig später dem “Briefmarken Spiegel”:

„Also erstmal bin ich kein Gutachter. Und zweitens sind die Sätze vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe zwar erwähnt, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine echte, also schlichtweg um eine nicht gefälschte Briefmarke handelt, die auch echt gelaufen sein dürfte. Aber ich habe nie behauptet, dass es sich um die besagte Rarität handelt. Dies könnte ich ja auch gar nicht beurteilen.” Dazu in der Lage wäre einzig die Philatelic Foundation.10

Und was die von der Briefmarke hält, wissen wir ja nun. “Bild” aber erwähnt New York einfach überhaupt nicht mehr und reist ohne Erklärung nach London – wo die Marke erst einmal in einem Tresor landet, weil die Prüfung „ein halbes Jahr dauern“ könne, wie “Bild” schreibt.

Am Ende des Tages durfte [Opa Herbert] seine Marke persönlich in den großen Tresorraum der Royal Society legen – wo sie jetzt bleibt. Dann rief er Freundin [Astrid] (71) in Sachsen an: „Es ist geschafft, ich liebe dich!“11

Mit dieser rührenden Szene endet die Serie über das kleine Stück Papier, aus dem “Bild” ein halbes Dutzend Artikel und internationale Aufmerksamkeit generieren konnte. Während die eigentliche Frage, ob es wirklich drei Millionen Dollar wert ist, für die “Bild”-Leser weiter unbeantwortet bleibt.

Im Sauseschritt Ost-West-Konflikt

Die Wahrheit, schreibt Günter Wallraff schon 1977 in „Der Aufmacher“, liege bei “Bild” „oftmals weder in noch zwischen den Zeilen, sie liegt mehr unter den Zeilen, jedenfalls unter den gedruckten“. Gedruckt werde alles, was die Auflage steigert; nicht gedruckt werde, was den Verkauf nicht fördert. „Ein klassisches Prinzip, einfach und gleichzeitig universell anwendbar.“ 12

Dass die Briefmarke von Opa Herbert laut den Experten in New York weniger als hundert Dollar wert ist, wird nicht gedruckt. Und dass auch die Prüfer in London schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass es sich mitnichten um die wertvolle Rarität handelt, wird von “Bild” erst Jahre später in einem Nebensatz erwähnt. Aber auch davon lässt sich die Redaktion nicht beirren: Im selben Artikel behauptet sie weiterhin, Opa Herbert habe die „Millionen-Briefmarke“ gefunden, einen „wertvollen Schatz, der sogar die blaue Mauritius in den Schatten stellt“.13

Diese selektive Realitätsverweigerung ist ein wesentlicher Bestandteil in der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Ein Mittel, das die Redakteure einsetzen, um Geschichten künstlich aufzubauschen und am Leben zu halten. Nicht nur bei den großen, ernsten Themen wie Ausländerkriminalität oder Corona, auch bei kleineren, leichteren wie eben Briefmarken. Oder dem Sandmännchen.

Über das hat der “Bild”-Reporter, der für die Briefmarken-Story verantwortlich war, ein paar Jahre zuvor auch mal einen Artikel geschrieben, der ebenfalls für großes Aufsehen sorgen sollte. „Sandmann in den Westen verkauft“, lautet die Schlagzeile, die im Februar 2009 ausschließlich in den ostdeutschen Ausgaben von “Bild” zu lesen ist. Im Artikel schreibt der Reporter, dass „der Osten“ ab April „die Lizenz für seinen größten TV-Liebling“ verliere:

Generationen von Kindern brachte Sandmännchen (…) seit 1959 ins Bett. Und bis heute schalten ihn täglich 1,5 Mio. Fans ein. Genauso erfolgreich ist der TV-Knirps als Märchenfigur auf den Bühnen zwischen Rügen und Fichtelberg.

Doch damit ist jetzt Schluss. Ausgerechnet zum 50. Sandmann-Geburtstag hat der RBB die Sandmann-Lizenz in den Westen verkauft. Und zwar an das Kölner Theater Cocomico. (…) Der Vertrag läuft vorerst zwei Jahre. Danach können wir wieder auf unseren Sandmann hoffen!14

Tatsächlich wurden lediglich die Musical-Rechte an das Kölner Theater vergeben, wie uns ein RBB-Sprecher damals auf Nachfrage erklärt. Für das Sandmännchen im Fernsehen bleibe alles wie gehabt – was auch “Bild” bekannt gewesen sein dürfte, denn zwei Tage vorher hatte bereits die “Sächsische Zeitung” berichtet, dass sich an der Ausstrahlung im Fernsehen nichts ändere.

Nach Erscheinen des “Bild”-Artikels ruft ein Sprecher des RBB beim Autor des Textes an und weist ihn darauf hin, dass die Berichterstattung irreführend sei. Doch der lässt sich nicht vom Kurs abbringen und schreibt in der nächsten “Bild”-Ausgabe wieder über das Sandmännchen:

Der schnelle Verkauf unseres Sandmännchens in den Westen – Tausende Kinder zwischen Rügen und Fichtelberg sind traurig. (…) „Die Entscheidung, die Lizenz nach Köln zu geben, ist uns nicht leicht gefallen“, räumt [ein RBB-Sprecher] ein.15

Letzteres sei übrigens, wie uns der RBB-Sprecher damals versichert, ein Satz, den “Bild” „komplett frei erfunden“ habe.16 Er selbst habe das „nie gesagt“ – nicht zuletzt deshalb nicht, weil das Sandmännchen im Westen ohnehin längst so beliebt sei wie „zwischen Rügen und Fichtelberg“ und mehrere Jahrzehnte nach dem Mauerfall eigentlich nicht zum Ost-West-Konflikt tauge.

Eigentlich.

„Ist das die Unterhose von Eva Braun?“

Auch bei anderen Themen wird die Wahrheit häufig tief unter den Zeilen begraben. Gut zu beobachten beispielsweise in der Berichterstattung über einen alten Dauergast der “Bild”-Medien.

„Hitlers geheimer Gold-Zug!“, heißt es im Spätsommer 2015 groß auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung, dazu ein Foto von Adolf Hitler, hinter ihm ein mit Kanonen bestückter NS-Zug.17 Im Westen Polens sei „ein verschollener Panzerzug der Wehrmacht entdeckt“ worden, schreibt “Bild”, an Bord sollen sich „von den Nazis geraubte Schätze und Kunstwerke befinden“. Zwei Hobbyforscher seien auf den Sensationsfund gestoßen, weil ihnen ein alter Mann auf dem Sterbebett das Versteck verraten habe. Ein polnischer Minister habe den Fund „zu 99 Prozent“ bestätigt.

In seriösen Medien kommen sofort Zweifel auf. “Spiegel Online” zitiert den polnischen Zentralbankchef, der die Geschichte einen „Hoax“ nennt.18 “Zeit Online” interviewt einen polnischen Geschichtsjournalisten, der sich an die erfundenen Hitler-Tagebücher erinnert fühlt. Auch die angeblichen Beweisfotos seien „dubios“, befindet “Zeit Online” und ahnt: Der Sensationsfund „könnte zur Ente verpuffen“.19

“Bild” hingegen lässt so gut wie keinen Zweifel an der Sache und ist ganz vorne mit dabei: „BILD vor Ort – Was passiert mit Hitlers Gold-Zug?“, „BILD traf den Mann, der das Geheimnis lüften kann“, „Historikerin brachte BILD-Reporter auf die Spur“. Tagelang folgt ein Artikel auf den nächsten: „Nazi-Zug versetzt Experten in Goldrausch“, „Juwelen, Gold, Bernsteinzimmer? Das Geheimnis um den Nazi-Zug von Polen“, „Zeigen Satelliten-Bilder, wo der Nazi-Zug steckt?“, „Geteilte Böschung mit auffälligem Bewuchs: Führt diese Furche zu Hitlers Gold-Zug?“20

Währenddessen machen sich, wie der Korrespondent von “Zeit Online” berichtet, „tausende Schaulustige und Abenteurer“ auf den Weg nach Niederschlesien, „um sich in den teils einsturzgefährdeten und womöglich verminten Stollen auf Schatzsuche zu begeben – und dabei in Lebensgefahr“.21 Sechs Tage später stürzt ein 39-jähriger Mann auf der Suche nach dem Zug in eine Vertiefung und stirbt.22

Als auch in den Wochen danach keiner der zahllosen Schatzsucher fündig wird, verschwindet der vermeintliche Hitler-Schatz nach und nach wieder aus der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Als die Suche einige Monate später offiziell abgebrochen wird23, ist ihnen das nicht mal mehr eine kleine Meldung wert.

Die “Bild”-Artikel zum angeblichen Nazi-Gold-Zug sind auch heute noch online abrufbar. Viele davon sind mit großen Fotos von Adolf Hitler bebildert, einige nur gegen Bezahlung lesbar. Hitler verkauft sich. Was selbst “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner sauer aufstößt:

Was mich anwidert, ist, dass Hitler eine Art Marke geworden ist. (…) Was mich nervt, ist seine unverminderte Gegenwart. Hitler-Filme, Zeichnungen von ihm werden in Auktionshäusern feilgeboten, Filme, „Der Untergang“, Bücher, „Er ist wieder da“.

Seine Ur-Enkel sind wieder da, sie werfen Brandbomben auf Flüchtlingsheime.

Mit dem Gold-Zug ist Hitler wieder da. Das Finstere, das Abscheuliche.

Die Schatzsuche nach dem Nazi-Gold ist für mich wie in Scheiße suchen.24

In der wühlt Wagners Heimblatt aber immer wieder gerne. Die Münchner Regionalausgabe von “Bild” zum Beispiel macht ein paar Monate vor dem Nazigoldrausch in Polen eine andere vermeintliche Hitler-Entdeckung, diesmal im Keller einer Hochschule.

„Das ist Hitlers Reichspartei-Badewanne“, titelt sie über dem halbseitigen Foto einer gammeligen Badewanne. Sie sei „schon ganz braun“, witzeln die Autoren: ein „rechteckiges Stück Geschichte – direkt aus Adolf Hitlers Büro-Badezimmer!“ Und exklusiv hinein in die “Bild”-Zeitung. Die Wanne sei zwischen 1933 und 1937 „in das Dienstbad des Diktators“ eingebaut worden und schließlich im Keller der Hochschule gelandet, heißt es im Artikel.25

Auf die Frage, ob sich Hitler „am Feierabend hier bei einem Schaumbad“ entspannte, gibt sich “Bild” die Antwort zwar gleich selbst – „höchstwahrscheinlich nicht“ –, doch das hält sie nicht davon ab, groß über den angeblich sensationellen Fund zu berichten. Belege gibt sie für das alles nicht an, weder Zitate von Experten noch handfeste Spuren oder Beweise, nicht mal ihre Quelle verraten die Autoren.

Der Kanzler der Hochschule erklärt uns damals auf Nachfrage:

Die Meldung ist aufgrund einer nicht autorisierten Auskunft unseres Hausmeisters erschienen. “Bild” hatte einen Bericht über unterirdische Gänge in München bringen wollen. Dabei sahen die Reporter die Badewanne im Keller und haben nachgefragt. Ob die Badewanne wirklich aus Hitlers Badezimmer stammt, wissen wir nicht. Ich wehre mich deshalb stets gegen Spekulationen. Leider war “Bild” nicht bereit, auf die Meldung zu verzichten.26

Stattdessen macht “Bild” aus der ranzigen Badewanne, in der Hitler höchstwahrscheinlich nicht gebadet hat, eine fast ganzseitige Geschichte und lässt jegliche Zweifel unter einer großen Schlagzeile verschwinden.

Im Juni 2017 dominiert Hitler wieder die “Bild”-Titelseite. „Hitlers Silberschatz gefunden“, heißt es dort groß neben einem Foto des Diktators. In Argentinien sei hinter einem Bücherregal ein „bizarrer Nazi-Schatz“ entdeckt worden: „STATUEN, KATZEN-SPARDOSE!“27 Als sich drei Monate später herausstellt, dass es sich um Fälschungen handelt28, ist davon in der “Bild”-Zeitung nichts mehr zu lesen.

„Hitlers geheimer Cognac-Keller entdeckt“, titelt “Bild” im Sommer 2015.29 Hier, in einem Keller in Sachsen, behauptet die Zeitung, habe „Adolf Hitler (†56) Ende 1944 seine Delikatessen und Unmengen Cognac“ versteckt. Beweise dafür hat sie bis heute nicht geliefert.30

„Es ist immer das Gleiche“, heißt es im 1978 erschienenen Dramolett „Der deutsche Mittagstisch“ von Thomas Bernhard: „Kaum sitzen wir bei Tisch an der Eiche, findet einer einen Nazi in der Suppe. Und statt der guten alten Nudelsuppe bekommen wir jeden Tag die Nazisuppe auf den Tisch. Lauter Nazis statt Nudeln.“31

Bei “Bild” wird vor allem einer aufgetischt. „Hitlers Lieblingsbücher“32, „Hitlers Bar“33, „Hitlers Mietvertrag“34, „Hitlers Hoden-Diagnose“35, “Grüner mit Hitler-Droge erwischt”36. Zwischendurch auch mal ein bisschen personelle Abwechslung: „BILD findet Görings Modell-Eisenbahn“37. Oder: „Wie kam Costa Cordalis an den Nazi-Teppich von Goebbels?“38 Oder: „Ist das die Unterhose von Eva Braun?“39

Solche „Hitlereien“ finden sich auch in anderen Medien, schreibt Daniel Erk, der für die Onlineausgabe der “taz” sechs Jahre lang das “Hitlerblog” geführt hat:

In diesen Jahren ist keine, wirklich keine Woche vergangen, in der Hitler nicht Thema in der Presse gewesen wäre, in der nicht irgendein Kasper einen mal guten, mal schlechten Hitler-Witz gemacht hätte oder in der die Symbole und Begriffe des Dritten Reiches nicht in einem abwegigen oder ärgerlichen Kontext aufgetaucht wären. Wirklich: keine einzige Woche.

Zu einem Erkenntnisgewinn hätten die Geschichten aber so gut wie nie geführt:

Idealerweise wäre das ja ein Kommunikationsanlass, um über den Hitler-Wahn, die Ängste, Symbole und Tabus zu sprechen. Stattdessen sieht man immer nur Titelgeschichten über Hitlers letzte Stunden und liebste Hunde. Die Boulevardisierung des Themas hat die Substanz längst verdrängt.40

Aber um Substanz, darum, die Leser zu informieren, geht es ja auch nicht, jedenfalls nicht der “Bild”-Zeitung. Verkauft werden nicht Tatsachen, sondern Geschichten. Und wenn die Fakten nicht zur Schlagzeile passen, werden sie geschickt umgedichtet oder verschwiegen. Dann erwähnen die “Bild”-Medien einfach gar nicht, dass sich der Sensationsfund als Fälschung entpuppt hat. Oder sie fliegen statt nach New York, wo sie die Realität erwarten würde, nach London, wo sie die Geschichte noch weiterfüttern können. Wer sich nur in “Bild” informiert, glaubt womöglich heute noch, dass in Polen ein Nazi-Zug voller Gold gefunden, dass das Sandmännchen in den Westen verkauft und dass Opa Herbert Briefmarkenmillionär wurde.

„Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“

Dass gerade die Hitler-Geschichten in “Bild” seit Jahren so eine prominente Rolle spielen, dürfte aber nicht nur daran liegen, dass sie gut geklickt und gekauft werden. Absurde Schlagzeilen wie „UFO-Sekte will jetzt Hitler klonen!“41 oder „Zeigten Kornkreise Hitlers Bombern den Weg?“42 haben der Zeitung insbesondere unter Chefredakteur Kai Diekmann hin und wieder einen ironischen Touch verliehen: auch mal albern sein, sich selbst nicht so ernst nehmen. In dieser Zeit erschienen immer wieder Geschichten wie „Haben Außerirdische den Windrad-Flügel geklaut?“43, oder „Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“44, oder „Liegt da ein abgehacktes Bein auf dem Mars?“45

Doch seit Julian Reichelt das Steuer übernommen hat, finden solche Blödeleien kaum noch statt. Die “Bild”-Themenseite „Mystery“ („Aliens, Ufos, Übersinnliches“), die unter Diekmann laufend mit bekloppten Ufo-Geschichten befüllt wurde, besteht heute aus Artikeln wie „Mutter (84) und Sohn saßen wochenlang tot auf dem Sofa“46 oder „Wie Corona-Leugner um die Promis werben“47. Generell findet man in den heutigen “Bild”-Medien augenzwinkernde Elemente eher selten. Der Ernst hat Einzug gehalten. Und: die Politik.

Denn unter Reichelt ist auch die scherzhafte Seite von “Bild”, so sie denn mal zum Vorschein kommt, oft politisch aufgeladen. „Ist Wladimir Putin ein unsterblicher Vampir?“, heißt es dann zum Beispiel: „Gruselige Nachrichten zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin: Ist der Kreml-Chef unsterblich? Beteiligt er sich seit knapp 100 Jahren an russischer Kriegspolitik? Oder sogar schon seit Jahrhunderten?“48

Oder: „Ist Donald Trump die dritte Inkarnation des Teufels? Wird der New Yorker Immobilienmogul einen 27 Jahre langen Weltkrieg auslösen?“, wie “Bild” Anfang 2017 fragt, unter der Überschrift: „Sagte Nostradamus die Trumpocalypse voraus?“49

Andere Albernheiten, mit Aliens und ohne Agenda, hat “Bild” auf vereinzelte Ausnahmen reduziert. Hitler geht aber immer noch.

„Letzter Hitler bricht sein Schweigen!“, verkündet “Bild” im Oktober 2018 exklusiv auf der Titelseite: „BILD traf den Groß-Neffen in den USA“.50 Für die Story hat die Redaktion die komplette Seite 3 der Bundesausgabe freigeräumt, in der Mitte: ein riesiges Foto von Adolf Hitler.

Der Mann, den “Bild” in den USA gefunden hat und „Alexander Hitler“ nennt, soll um viele Ecken ein Nachfahre Adolf Hitlers sein. Mit Medien redet er eigentlich nicht. Als die “New York Times” ihn 2006 aufspürt, bittet er „vehement und wiederholt“ darum, nicht identifiziert zu werden, aus Angst vor einem Mediensturm und davor, dass man ihn fälschlicherweise für einen Nazi halten könnte.51

Er heißt nicht mal Hitler. Das schreibt auch der “Bild”-Redakteur im Artikel – und nennt ihn trotzdem so, immer und immer wieder. „Alexander Hitler lebt in einem Holzhaus.“ „DEAD END steht auf dem Schild vor der Straße, in der Alexander Hitler wohnt.“ „Gepflegt sind dafür die vielen Topfpflanzen, die hier stehen. Fleißiges Lieschen, Bartnelken, Eisbegonien, Funkien. Die amerikanischen Hitlers haben einen grünen Daumen.“

In der kleinen Stadt wisse „fast niemand“, dass der Mann „der letzte Hitler“ sei, schreibt die “Bild”-Zeitung. Und als wollte sie etwas daran ändern, verrät sie, in welcher Gegend der Mann wohnt, beschreibt sein Grundstück, was für ein Auto er fährt. „Er ist groß, zirka 1,85 Meter, trägt ein türkis-weiß-kariertes Hemd und eine beigefarbene Cargohose. Alexander Hitler.“ Im Artikel zeigt “Bild” über die gesamte Seitenbreite ein Foto, das offenbar aus größerer Entfernung aufgenommen wurde: Der Mann steht in der Tür seines Hauses, sein Gesicht ist nicht verpixelt.

Wir haben damals bei “Bild” nachgefragt, ob der Mann wusste, dass er fotografiert wird, und ob er eingewilligt hat, dass dieses Foto veröffentlicht wird. Der “Bild”-Redakteur wollte uns darauf nicht antworten.

Die Geschichte und das unverpixelte Foto des Mannes gehen um die Welt. Stolz präsentiert “Bild” am nächsten Tag „internationale Presse-Reaktionen“52: Zeitungen in England, Spanien, der Türkei „und über 100 weitere Medien“ hätten über die “Bild”-Zeitung und den „letzten Hitler“ berichtet.

Obwohl er weder ein „Hitler“ ist noch „der letzte“ – er hat noch zwei Brüder. Die auch nicht Hitler heißen. Auch bei deren Haus (das “Bild” ebenfalls abbildet) klingelt der Redakteur. „Die Tür öffnet sich einen Spalt. Ein Mann, um die 50 Jahre alt, schiebt das Fliegengitter beiseite und streckt seinen Kopf heraus. Volles, dunkles Haar, glatt rasiertes, kantiges Gesicht. Hitler trägt kurze Hose.“

Als sich der “Bild”-Redakteur als solcher zu erkennen gibt, schließt der Mann sofort die Tür. Und schaltet die Rasensprenger an.

“Deutschlandstrategie” der NZZ, Die Gemälde des Bob Ross, Un-“Bunte”

1. Die neuen Freunde der NZZ
(republik.ch, Daniel Binswanger)
Daniel Binswanger kommentiert die “Deutschland­strategie” des Schweizer Traditionsblattes “NZZ”, die besonders von AfD-Anhängern gefeiert wird: “Es ist verblüffend, wie shitstorm­getrieben die Positionierung der NZZ geworden ist. Man könnte den Eindruck bekommen, sie sei nicht mehr eine Publikation mit klaren publizistischen Linien, sondern ein Unternehmen zum Austesten der Grenzen des politischen Anstands. Wenns brenzlig wird, macht man einen taktischen Rückzieher.”

2. Leider wurde mein lieber Freund…
(facebook.com, Friederike Werner)
Friederike Werner war mit dem unlängst verstorbenen Filmproduzent David Groenewold befreundet, der 2013 in Zusammenhang mit der sogenannten “Wulff-Affäre” angeklagt und freigesprochen wurde. Sie ist schwer getroffen von der Berichterstattung durch die “Bunte” und deren Redakteurin Tanja May: “Die Tatsache, dass Frau May das Haus inklusive Polizeisiegel an der Wohnungstür von David Groenewold hat fotografieren lassen, sowie das illegale Beschaffen von Polizeiakten werden ein juristisches Nachspiel haben. Ich werde außerdem niemals müde werden, die Menschen darauf hinzuweisen, wie unanständig Frau May und die BUNTE in einer solch schweren Situation für alle Angehörigen agiert haben.”

3. Hört endlich auf, euch an der Dummheit von Influencern aufzugeilen
(vice.com, Sebastian Meineck)
Immer wieder machen sich Medien über Influencer lustig, die es mit der Selbstdarstellung übertreiben. Das Bashing gehe jedoch am Thema vorbei, wenn gewöhnliche Instagrammer mit ein paar hundert Abonnenten zu Influencern aufgeblasen werden und wenn der vermeintliche Skandal bei näherer Betrachtung in sich zusammenfällt. Sebastian Meineck erzählt die Geschichte von den “dummen Influencern” und dem giftigen See.

4. DJV-Austritt aus Protest
(welchering.de)
Peter Welchering hat in einem offenen Brief seinen Austritt aus dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) verkündet. Er wirft dem Verband beziehungsweise dessen Vertretern unter anderem eine zu große CDU-Nähe vor. Außerdem habe der DJV von Facebook und Google Geld kassiert und betrachte PR als eine Unterart des Journalismus. (Sobald eine Antwort des Verbands vorliegt, werden wir sie an dieser Stelle verlinken.)

5. Die Journalistin, die Jeffrey Epstein überführte
(sueddeutsche.de, Alan Cassidy)
Der US-Milliardär Jeffrey Epstein hat wahrscheinlich mehr als 80 Mädchen missbraucht und wäre damit wahrscheinlich davongekommen, denn er hatte mächtige Freunde in Justiz und Regierung. Dass der Fall nun neu aufgerollt wird, ist der amerikanischen Lokaljournalistin Julie K. Brown zu verdanken, die das übernommen hat, was Sache der Justiz gewesen wäre: “Eineinhalb Jahre verbrachte Brown damit, Epsteins Opfern nachzuspüren, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie zu überreden, ihr von den Übergriffen zu erzählen, die sie erlitten hatten. Sie sprach mit Polizisten, die gegen den Financier ermittelt hatten, aber von ihren Vorgesetzten ausgebremst wurden. Sie wühlte sich durch Berge von Akten, flog von Florida nach New York, um vor Gericht Einsicht in Dokumente zu erkämpfen, und bezahlte manche Reise aus eigener Tasche.”

6. Where Are All the Bob Ross Paintings? We Found Them.
(nytimes.com, Larry Buchanan & Aaron Byrd & Alicia DeSantis & Emily Rhyne, Video: 10:49 Minuten)
“The Joy of Painting” hieß der legendäre TV-Malkurs, in dem der US-amerikanische Maler Bob Ross mit sanfter Stimme erklärte, wie man ein Landschaftsbild malt. Wo sind all die Bilder geblieben, die im Rahmen der vielen hundert Fernsehsendungen entstanden? Die “New York Times” hat sich auf Spurensuche begeben und einen sehenswerten zehnminütigen Videobeitrag produziert.

7. Liebe “BILD”-Leute, hier liegen gleich mehrere Missverständnisse vor. Ich erkläre Euch das gerne.
(facebook.com, Lorenz Meyer)
Extralink außerhalb der Reihe, da vom Kurator selbst: Auf Facebook erkläre ich “Bild”, warum von einer “Zitter-Zensur” der CDU keine Rede sein kann und räume mit einigen Missverständnissen auf: “Das letzte Missverständnis betrifft Euch, Eure Arbeit und Euer Arbeitsethos. Was Ihr macht, hat nämlich weder was mit Journalismus, noch mit Anstand zu tun.”

“Compact”: Lesen, was andere sich nicht zu schreiben erdreisten

Es wäre zu kurz gegriffen, zu behaupten, “Compact” betreibe ausschließlich Hofberichterstattung für die AfD. Diese ist zwar ein wichtiges Standbein des Magazins. Das zeigte sich auch am Wahlabend in Sachsen-Anhalt, als der AfD-Spitzenkandidat André Poggenburg, bevor er sich anderen Journalisten stellte, zuerst mit “Compact”-Chefredakteur Jürgen Elsässer sprach, der ihn im eigenen Studio freundlich duzte und unterwürfigst Vorlagen lieferte. Aber “Compact” berichtet auch über andere Themen.

“Lesen, was andere nicht schreiben dürfen”, lautet eine der vielen Parolen, mit denen das Magazin für sich wirbt. Wie rebellisch. Und tatsächlich finden sich in “Compact” Geschichten, die man in der seriösen “Mainstreampresse” eher nicht finden wird. Allerdings nicht, weil das verboten wäre, wie “Compact” verschwörerisch mitklingen lässt. Vielmehr serviert “Compact” seinem Publikum Geschichten, für die andere sich in Grund und Boden schämen müssten.

Zum Beispiel die Story über das Zika-Virus. Laut “Compact”-Autor Michael Morris ist dieses nämlich Teil eines geheimen Plans zur Bevölkerungsreduzierung.

Michael Morris kennt sich mit den ganz großen Intrigen aus. Er veröffentlicht sonst im Amadeus Verlag Verschwörungsliteratur. Sein Herausgeber ist Jan Udo Holey, der es unter dem Pseudonym Jan van Helsing zu einiger Prominenz als rechter Esoteriker gebracht hat. Unter der großen Weltverschwörung machen es die beiden nicht.

Dabei schwadroniert Holey gern von Hitlers UFOs, deren Rückzug ins antarktische Neuschwabenland und arischen Außerdischen. Das klingt noch eher lustig, doch er zitiert auch ausgiebig aus richtig üblen, antisemitischen Pamphleten wie den “Protokollen der Weisen von Zion”. Holeys erste Schriften wurden indiziert.

Sein Schützling Michael Morris hat daher gelernt, sich in weniger angreifbaren Chiffren auszulassen, zum Beispiel über angebliche Machenschaften der Rothschild-Familie oder darüber, wie ein “westliches Bankenkartell den Goldhandel kontrolliert”. Seine Bücher tragen Titel wie “Was Sie nicht wissen sollen” und führen, wie der Verlag schreibt, “anschaulich aus, wie eine kleine Gruppe von Bankiers dabei ist, durch Wirtschafts- und Währungskriege die totale Herrschaft über die Welt zu erlangen”.

In seinem Artikel über das Zika-Virus vermischt Morris nun eine Geschichte, die ursprünglich in einem Sub-Reddit für Verschwörungstheorien auftauchte, mit schon länger kursierender Panikmache mancher Impfgegner. Das Virus soll mit genveränderten Mücken aufgekommen sein — Überschrift:

Der Artikel steht übrigens im Politikteil, nicht in irgendeinem Aluhut-Ressort, wie es etwa Bild.de mit “Bild Mystery” betreibt.

“Compact” muss sich für sein Schauermärchen nicht direkt bei Reddit bedient haben, sondern könnte auch von Krawallmedien wie der Daily Mail, Russia Today oder Fox News inspiriert worden sein. Auch dort wird die These verbreitet, gentechnisch veränderte Stechmücken seien für den Zika-Ausbruch verantwortlich.

Die veränderten Mücken gibt es tatsächlich. Ziel der Technik ist es, dass transgene männliche Mücken Nachkommen zeugen, die in freier Natur nicht überleben können, und so die Population reduziert wird. Michael Morris setzt ganz auf die alarmierende Wirkung, die das Thema Gentechnik bei vielen Lesern auslöst. Einmal gesetzt, scheint er zu glauben, mit allem durchzukommen.

Denn interessanterweise prüft das Magazin, das sich ganz dem Kampf gegen die “Lügenpresse” verschrieben hat, die Behauptungen offenbar nicht besonders kritisch. Sie passen eben zu gut ins paranoide Weltbild.

Gut, dass sich statt ihnen andere diese Arbeit machen. Die Fact-Checking-Plattform der Tampa Bay Times “Politifact” lässt schnell die heiße Luft aus der Geschichte:

We wondered if there is any truth to the notion that Zika is being spread by transgenic mosquitoes.

In a word, no. Epidemiologists told us the rumor is baseless. The mosquitoes in question wouldn’t have been capable of starting the outbreak in 2015, and the geographic correlation offered doesn’t hold up.

Zeit und Ort des Zika-Ausbruchs passen, anders als behauptet, nicht zu den Feldtests, die bisher mit transgenen Gelbfiebermücken stattfanden. Diese wurden viele Moskitoleben vorher in weiter Entfernung durchgeführt. Auch sonst gibt es keine Belege für einen Zusammenhang zwischen dem Virus und der Gentechnik. Das Zika-Virus ist auch nicht neu, sondern seit etwa 70 Jahren bekannt, die Bausteine der DNS wurden erst 20 Jahre später entschlüsselt.

Michael Morris ist die ursprüngliche Verschwörungstheorie aber noch nicht genug. So fragt er etwa:

Wieso überträgt er [der Moskito] nun statt dem Dengue-Virus vorwiegend das Zika- und das Guillain-Barré-Virus (…)?

Die richtige Antwort lautet: Die Mücke überträgt nach wie vor das Dengue-Virus, über 1,5-Millionen Fälle zählten die brasilianischen Behörden 2015 (pdf der Pan American Health Organization). Das eine Guillain-Barré-Virus gibt es außerdem nicht, bekannt ist nur das Guillain-Barré-Syndrom, für das verschiedene Viren als Auslöser infrage kommen.

Das könnte man noch als schlampige Recherche abtun. Wirklich kreativ wird Morris aber mit folgender Wendung, die für ihn auf der Hand liegt, weil die Bill & Melinda Gates Foundation auch Versuche der Firma Oxitec mit transgenen Gelbfiebermücken unterstützte:

Bill Gates hatte bereits 2009 während eines Vortrags im Rahmen der TED-Konferenz scherzhaft Malaria-Mücken im Publikum freigesetzt, was alle Anwesenden noch für einen Spaß hielten. Doch mit dem Mann ist nicht zu spaßen. Er und seine Freunde, wie Rupert Murdoch, Zbigniew Brzezinski und Ted Turner, sind bekannt dafür, die Weltbevölkerung drastisch reduzieren zu wollen, und Gates betonte immer wieder, dass Impfstoffe dafür am besten geeignet wären.

Dem Monster, das Clippy die Büroklammer auf die Menschheit losgelassen hat, ist eben alles zuzutrauen.

Und seinen Geschäftssinn hat Bill Gates wohl auch verloren. Er soll also im Besitz eines ominösen Verhütungsmittels sein, das er aber nicht vermarktet, um dadurch noch reicher werden, obwohl es scheinbar bequemer als Pille, Spirale und Kondom anzuwenden ist. Außerdem verbreitet er für diesen genial-gemeinen Plan erst das Zika-Virus, für das es noch gar keinen Impfstoff gibt, statt sein Zaubermittel gängigen Schutzimpfungen beizumischen.

Und dann gibt er auch noch selbst zu, dass Impfungen beitragen sollen, das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen:

Bei der TED-Konferenz im Jahr 2010 führte er [Bill Gates] aus: “Auf der Erde leben heute 6,8 Milliarden Menschen (…), diese Zahl wird auf ungefähr neun Milliarden anwachsen. Wenn wir nun bezüglich neuer Impfstoffe, im Gesundheitswesen und in der Fortpflanzungsmedizin wirklich gute Arbeit leisten, können wir diese um ungefähr 10 bis 15 Prozent verringern.”

Potzblitz! Jetzt hat die Spürnase Michael Morris den Multimillionär aber überführt, oder?

Damit das Zitat zum Geständnis wird, muss Morris den Kontext weglassen. Bill Gates spricht sich hier nicht dafür aus, Menschen per Impfung ohne deren Wissen unfruchtbar zu machen. Er wirbt vielmehr dafür, die medizinische Versorgung zu verbessern. Denn dann, so seine Hoffnung, könnten Entwicklungsländer sich ähnlich wie die Erste Welt verhalten. Dort hat sich gezeigt, dass die besseren Gesundheitssysteme dazu führen, dass weniger Kinder sterben und alte Menschen nicht ausschließlich auf die Fürsorge ihres Nachwuchs angewiesen sind. Kinder zu zeugen ist dann keine Notwendigkeit mehr und Familien werden planbar, weshalb sich mehr Leute gegen Kinder entscheiden. Auch rechnet sich die Gates Foundation dadurch keinen Reduktion der Weltbevölkerung aus, wie die Verschwörungstheoretiker behaupten, weil in der Formulierung auch ein bisschen Völkermord mitschwingt. Sie erwartet nur ein langsameres Wachstum.

So zerfällt die Geschichte von “Frankensteins Killer-Moskito” bei näherer Betrachtung in das, was auch von den meisten anderen “Compact”-Geschichten bleibt, wenn man sich etwas genauer mit ihnen befasst: ein paar Krümel Wahrheit und ein riesiger Haufen Bullshit.

Für Sie geklickt (2)

Für die kniffligen Fragen des Lebens gibt es bei Bild.de das Ressort “Mystery”. Seit Jahren werden dort die spannendsten aller Geschichten erzählt, nahezu jede Schlagzeile der absolute Oberwahnsinn.

Wie? Kennen Sie gar nicht?

Macht nichts. Denn wir haben erneut unsere Task-Force losgeschickt. Wir klicken für Sie. Damit Sie Lebenszeit und Gehirnzellen sparen — und trotzdem immer auf dem neuesten Stand bleiben!

Heute: das Mystery-Ressort von Bild.de.

***

Hat die NASA hier einen Alien entdeckt?
Zeigt diese Aufnahme einen Außerirdischen?
Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?
Beweist diese Sternenkarte, dass Aliens existieren?
Ist das eine fliegende Untertasse?
Fliegt hier ein Ufo vorbei?
Fliegt hier ein Ufo am Vulkan vorbei?
FLiegt hier ein Ufo an einem Asteroiden vorbei?
FLiegt hier ein UFO neben der ISS?
Parkt hier ein UFO neben dem Merkur?
Haben hier die Aliens das Licht angeknipst?
Besuchen Aliens die Erde als Touristen?
Filmt ein Ami hier ein Ufo?
Sehen wir hier ein Alien?
Ist das ein Alien?
Beamt hier ein Ufo Aliens auf die Erde?
Wurde in Guatemala ein Schweine-Alien geboren?
Ist das hier ein Amazonas-Alien?
Inka-Alien in Peru entdeckt?
Wurde die Cheops-Pyramide von Aliens erbaut?
Umkreist ein Alien-Satellit die Erde seit 13000 Jahren?
Verhandelte US-Präsident Eisenhower mit Aliens?
Traf Neil Armstrong auf Aliens?
Hat schon Gagarin Aliens gesehen?
Hat Goethe ein Raumschiff gesehen?
Sah ein biblischer Prophet ein Ufo?
Rast hier ein Ufo mit 6500 km/h über Chile?
Kreisen hier Aliens über Kanada?
Ufo über England gesichtet?
Schwebt hier ein UFO über dem Jerusalemer Tempelberg?
Ufos über New York?
Tanzen Ufos über Honolulu?
Fliegen hier etwa Ufos über Krefeld?
Tarnt sich hier ein UFO über Melbourne?
FLiegen hier Ufos über Danzig?
Ufos über Hamburgs Norden?
Außerirdischer Besuch? Ufo über dem Vatikan gefilmt
Fliegende Pyramide über dem Kreml gefilmt?
Grüßen Aliens am Brandenburger Tor?
Ist in der Ostsee ein Ufo gelandet?
Alien in Australien gefilmt?
Gibt es eine Ufo-Basis auf dem Mond?
Haben Außerirdische Apollo 17 beobachtet?
Zeigt Google Maps einen UFO-Abdruck im ewigen Eis?
Überholt hier ein Ufo ein Ryanair-Flugzeug?
Beobachten Aliens die ISS?
Wurde hier ein Alien beigesetzt?
Hat dieser Junge ein Ufo fotografiert?
Explodiert hier ein UFO?
Gibt es auf der Insel eine geheime UFO-Basis?
Fliegt hier ein Alien-Mutterschiff?
Fliegt hier eine Ufo-Armada durch die Nacht?
Ist diese Münze der Beweis für einen Alien-Besuch?
Aliens bei der Obama-Vereidigung?
Gucken Aliens hier Olympia?
Ist das etwa der Fingerabdruck eines Aliens?
Alien-Baby in Tierfalle gefangen? Es lebte noch
Flugscheibe auf dem Merkur gefunden?
Riesiges Alien-Raumschiff auf dem Mond entdeckt?
Mond-Station für Alien-Raumschiffe entdeckt?
Jagt hier ein Kampfjet ein echtes Ufo?
Zeigt dieses Video ein echtes Alien?
Mega-Experiment im All - haben Aliens die Venus versetzt?
Raumsonde Voyager von Aliens entführt?
Wird hier ein Alien angebetet?
War es die Rache der Aliens?
Zeigt dieses Video Aliens im Anflug?
Beweis für Alien-Besuch auf der Erde entdeckt?
Alien-Stadt auf dem Mars entdeckt?
Wachsen da etwa Bäume auf dem Mars?
Versteckt sich hier eine Alien-Krabbe auf dem Markt?
Ist das ein Denkmal auf dem Mars?
Ist das ein Schädel auf dem Mars?
Ghandi-Gesicht auf dem Mars?
Steht hier ein Kreuz auf dem Mars?
Liegt da ein abgehacktes Bein auf dem Mars?
Überwachen uns Aliens mit Funk-Implantaten?
Läuft hier ein Alien durchs Fernsehbild?
Beamt hier ein Ufo eine Kuh in die Luft?
Suchen die Außerirdischen nach dem toten Baby-Alien?
Haben Außerirdische den Windrad-Flügel geklaut?
Verschweigt China den Ufo-Beweis?
Hat sich hier ein Alien-Geist auf das Sefie geschmuggelt?
Beobachten Aliens die ISS?
Kriegt Nessie hier gerade Besuch von Außerirdischen?
Zeigten Kornkreise Hitlers Bombern den Weg?
Haben die noch alle fliegende Untertassen im Schrank?

Vielleicht ja, vielleicht nein. Wahrscheinlich nein. Aber wer weiß?

***

Bitte. Gern geschehen.

Mumienfledderei

Nehmen wir mal an, irgendwo in Niedersachsen findet plötzlich jemand auf seinem Dachboden eine ägyptische Mumie. Mit Sarkophag und Hieroglyphen, das volle Programm. Und nehmen wir mal an, Sie arbeiten bei Bild.de. Wie gehen Sie vor, um möglichst lange von dieser Geschichte zu zehren?

Wir hätten da ein paar Vorschläge.

Zunächst einmal: Erzählen Sie, was passiert ist. Sie können ruhig ein bisschen rumalbern, ist ja schließlich eine total verrückte Geschichte.

Keine Leiche im Keller - Er hat eine Mumie auf dem Dachboden!

Beim Heiligen Ramses, einstmals größter Herrscher der Ägypter: Was ruht denn da unter einem Diepholzer Dach?

Unglaublich: Zahnarzt Dr. Lutz Wolfgang Kettler (53) aus der Kreisstadt entdeckte – eine Mumie!

Fassen Sie die Geschichte in aller Ruhe zusammen. Erwähnen Sie am Ende auf jeden Fall, dass die Mumie schon bald durchleuchtet werden soll, das eignet sich super als Cliffhanger.

Zwischenzeitlich sollten Sie sich schon mal einen Spitznamen für die Entdeckung überlegen, am besten etwas, in dem die Begriffe “Dachboden” und “Mumie” vorkommen, dann wissen die Leute gleich, worum es geht. Zum Beispiel “Dachboden-Mumie”.

Bevor die Dachboden-Mumie dann durchleuchtet wird, kündigen Sie an, dass die Dachboden-Mumie durchleuchtet wird:

Jetzt ermittelt die Polizei - Dachboden-Mumie wird durchleuchtet

Betonen Sie auch, dass jetzt die Polizei ermittelt. Das verleiht dem Ganzen einen wunderbar kriminellen Beigeschmack. Aber schreiben Sie lieber “Fachkommissariat für Tötungsdelikte”, das klingt noch besser.

Wenn die Untersuchung der Mumie dann abgeschlossen ist, durchforsten Sie die Ergebnisse nach brauchbarem Material für eine Schlagzeile.

Schau’n wir doch mal. Es hat sich herausgestellt, “dass alle von außen an der Mumie verwendeten Materialien einschließlich Kleber, Produkte des 20. Jahrhunderts sind”? Hm. Die Bandagen “bestehen zwar aus Naturwollen, sind jedoch maschinell gewebt“? Hm. Die Hieroglyphen auf dem Sarkophag “ergaben keinen Sinn”? Hm. Im linken Auge “steckt ein spitzer Gegenstand”? Bingo!

Dachboden-Mumie hat einen Pfeil im Kopf - Ist der Junge ein Mordopfer?

Spekulieren Sie einfach ein bisschen drauf los. Und beenden Sie den Artikel mit

Es bleibt spannend …

Wenn dann erst mal nichts Neues passiert, können Sie die Sache mit dem Kleber ja doch noch aufgreifen. Und bauen Sie Wörter mit “Grusel” und “Rätsel” ein.

Gruselfund auf Dachboden in Niedersachsen - Löst der Klebstoff das Mumien-Rätsel? - Experte: Bandagen aus dem 20. Jahrhundert

Und, wichtig: Stellen Sie Fragen! Am besten gleich mehrere hintereinander. Das gibt Ihrem Artikel etwas Detektivisches.

Schlummerte ein jahrtausendealtes Rätsel auf einem deutschen Dachboden? Lagerte dort, wo andere Möbel abstellen, eine Mumie aus dem alten Ägypten? Ist sie das Zeugnis eines neuzeitlichen Mordes?

Erwähnen Sie am Ende auf jeden Fall, dass die Mumie schon bald von der Gerichtsmedizin untersucht werden soll — das eignet sich super als Cliffhanger.

Beenden Sie den Artikel mit

Es bleibt spannend..

Bevor die Gerichtsmedizin die Mumie vom Dachboden dann untersucht, kündigen Sie an, dass die Gerichtsmedizin die Mumie vom Dachboden untersucht:

7 Theorien - Gerichtsmedizin untersucht Mumie vom Dachboden

Die Zeit bis zu den Untersuchungsergebnissen können Sie ohne viel Aufwand überbrücken, indem Sie sich ein paar Schauergeschichten ausdenken, die Sie dann “Theorien” nennen und auflisten. Zum Beispiel so:

Ein Bestattungsritual: In der ägyptischen Mythologie raubte Seth seinem Bruder Horus im Streit das Augenlicht. […] Ist der Pfeil im Auge ein Bestattungsritual zu Ehren Horus’?

Ein Mord im alten Ägypten: Sollte ein unehelicher Sohn aus dem Weg geräumt werden, um die Thronfolge nicht zu gefährden?

Ein Jagdunfall: Die ägyptischen Bogenschützen sind legendär. Möglicherweise geriet der Junge in die Schusslinie.

Sie können auch “Mystery-Experte Erich von Däniken (78)” zu Rate ziehen. Der weiß nämlich zu berichten, dass “auch im alten Ägypten […] Kinder mit Pfeil und Bogen” spielten (das untermauert dann die Theorie “verunglückter Kindergeburtstag”).

Sie müssen diesmal auch gar nicht auf die endgültigen Untersuchungsergebnisse warten, denn irgendwer hat gesagt, dass die Mumie unter Umständen möglicherweise 2000 Jahre alt sein könnte. Zack:

Erste Ergebnisse der Staatsanwaltschaft - Dachboden-Mumie soll 2000 Jahre alt sein!

Erwähnen Sie am Ende auf jeden Fall, dass die Mumie schon bald von externen Experten untersucht werden soll – das eignet sich super als Cliffhanger.

Überbrücken Sie die Zeit bis dahin mit Artikeln, in denen Sie noch mal das wiedergeben, was bisher geschehen ist:

Knochen, Hieroglyphen, Bandagen - Sieben Fakten zum Gruselfund des Jahres

Starten Sie eine Serie mit Mumien-Content:

BILD-Serie "Das Geheimnis der deutschen Mumien", Teil 1 - Der faszinierende Grusel des Bremer Bleikellers

BILD-Serie "Das Geheimnis der deutschen Mumien", Teil 2 - Die schaurige Legende um den Ritter von Kahlbutz

3. Teil der Serie - Die unsterblichen Superstars unter den Mumien - Von den Nedlitzer Mumien über Ötzi bis zur Moorleiche von Windeby

Und stellen Sie weitere Fragen:

Mumie vom Dachboden - Liegt in diesen Bananen-Kisten die Wahrheit?

Illegal in Deutschland? - Muss die Mumie vom Dachboden jetzt zurück nach Ägypten?

Rufen Sie noch mal bei Erich von Däniken an und lassen Sie ihn seltsame Dinge sagen.

Die Kinder-Mumie vom Dachboden - Erich von Däniken sicher: "Es ist ein Mischwesen"

Und damit herzlichen Glückwunsch! 13 Artikel in sechs Wochen, obwohl eigentlich noch gar nichts passiert ist. Das soll Ihnen mal jemand nachmachen.

Kurz darauf (genauer: am 25. September) wird es allerdings heikel, denn blöderweise bereitet die Rechtsmedizin dem Rätselraten ein vorläufiges Ende. Die Untersuchung hat ergeben, dass die Mumie gar keine Mumie ist. Das Skelett ist aus Plastik und die Pfeilspitze ein Kinderspielzeug. Der Schädel ist zwar echt, diente aber offenbar als Übungsmittel für Medizinstudenten.

Aber lassen Sie sich davon nicht entmutigen. Tun Sie einfach so, als käme die Sache jetzt erst so richtig in Fahrt:

Die Mumie vom Dachboden - Kopf echt, Körper aus Plastik - Rätsel immer größer

Und stellen Sie noch ein paar blöde Fragen:

Der Gruselfund vom Dachboden - Lacht uns die Mumie alle aus?
Verflucht! - Wurde unsere schöne Mumie zerhackt?

Lassen Sie die Geschichte dann zwei Wochen ruhen und fassen Sie schließlich alles noch mal in einem finalen Artikel zusammen. Gerne auch mit Unterstützung der Print-Kollegen:

Die Wahrheit über die Mumie vom Dachboden

Nennen Sie die Mumie “(SCH)MUMIE” und betonen Sie, dass auch die Anderen nicht ganz unschuldig sind:

Deutschlandweit berichteten Zeitungen (u. a. Süddeutsche, FAZ, Die WELT) über den sensationellen Mumienfund auf einem Diepholzer Dachboden

Erwähnen Sie am Ende auf jeden Fall, dass die Staatsanwaltschaft immer noch ermittelt, woher der Schädel stammt. Das eignet sich super als Cliffhanger.

Mit Dank auch an Petra O.

Black Box, Lehrerin, Strickjacke

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Das Edeka-‘Costa Concordia’-Paradoxon”
(fastvoice.net, Wolfgang Messer)
Wolfgang Messer prüft die Kritik an einer Werbebeilage, die im Netz “teils schadenfrohe und hämische, teils empörte Berichte und Kommentare” hervorrief. “Als im Lauf des Samstags das Ausmaß der Schiffskatastrophe vom Freitag, den 13., deutlich wurde, hätte Edeka selbst beim besten Willen keine Möglichkeit mehr gehabt, die Auslieferung der Werbebeilage noch zu stoppen.”

2. “Voll fett”
(klatschkritik.blog.de, Antje Tiefenthal)
Antje Tiefenthal hegt einen Verdacht: “In diesem Jahr wird es kaum noch eine Berichterstattung über Christine Neubauer geben, ohne das ‘Weight Watchers’ genannt wird.”

3. “Das Apfelkuchen-Prinzip”
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo macht Wirtschaft, Politik und Medien darauf aufmerksam, dass das Zeitalter der Black Box vorbei ist. “Politik und Wirtschaft sind anfälliger für den Druck der Öffentlichkeit und beginnen oft widerwillig und zum Teil inszeniert, aber spürbar, sich ständig in die Karten schauen zu lassen, ihre Prozesse transparenter zu gestalten. In vielen Medien aber scheint es kaum denkbar, die eigenen Schaffensprozesse konsequent sichtbar zu machen, wo es gefahrlos möglich wäre.”

4. “The Mystery of the Misunderstood Molester”
(andrewhammel.typepad.com, englisch)
Andrew Hammel beleuchtet die wiederkehrende Figur des unverstandenen Belästigers im “Tatort”. “Recently, at a lecture about crime fiction in Germany, I met a man who had written some scripts for German TV, and who complained of the heavy interference by editors, who frequently returned scripts with suggestions intended to make them more politically-correct. Evidently, the German cultural elite believes that ordinary Germans have a dangerously low opinion of convicted child molesters, and that this is an important problem that must be remedied by public education.”

5. “Darum ist das so. Like, really?”
(feigenblatt-magazin.de, Theresa)
Theresa widmet sich einigen Artikeln über die Beziehung zwischen Frauen und Männern, die sie kürzlich gelesen hat und meint damit “diese übertriebene Häufung von grandios generalisierenden Heulsusenartikeln, mit denen wir momentan überschwemmt werden”. “Was habt ihr eigentlich alle mit euren Strickjacken? Wir haben Januar, verdammt!”

6. “Die Lehrerin – ZDF Spielfilm”
(fraufreitag.wordpress.com)
Lehrerin Frau Freitag hält den ZDF-Film “Die Lehrerin”, ein Drama zum Thema Amoklauf, aus verschiedenen Gründen für unglaubwürdig. “Sorry, aber warum geht ihr nicht einfach mal in eine normale Schule rein und guckt euch um. Oder fragt mal Lehrer und Lehrerinnen, wie die so sind. So wie sie bei euch dargestellt werden nämlich nicht.”

Zukunst

Für die folgende Lektüre empfiehlt sich die Titelmusik von “Akte X” als Soundtrack.

Es ist ein ungewöhnlicher Ort für Prophezeiungen, die denen des Nostradamus gleichen. Und doch: Beim letztjährigen Wettbewerb “Jugend creativ” der Volksbanken und Raiffeisenbanken hat die damals 16-jährige Monja aus Hünfeld ein “nahezu hellseherisches” Bild gemalt, auf dem sie die Katastrophen in Japan vorausgesehen hat!

So berichtet zumindest die “Fuldaer Zeitung”:

"Da saß der Schock erstmal tief" Überschwemmungen, Erdbeben, Tsunamis, Atomkrise - das sind die modernen Geißeln der Menschheit. In nahezu hellseherischer Fähigkeit hat die 17-jährige Monja die aktuellen Katastrophen der Welt bereits vor einem Jahr auf einem Bild vorausgesehen

Und natürlich sprang auch “Bild”, das Fachjournal für alles Mysteriöse, sofort auf den Zug auf:

Unheimlich Schülerin (17) malte Japan-Unglück vor einem Jahr! Auf dem Bild zu sehen: Die Tsunami-Welle trifft ein Atomkraftwerk (oben rechts)

Ganz Clevere könnten die Mystery-Stimmung jetzt natürlich mit kritischen Fragen kaputtmachen: Warum sind denn da Eisbären? Ist damit das frühe Ableben von Knut gemeint? Was sollen die toten Bäume und der Tornado? Was hat der Sturm links oben im Bild mit Japan zu tun? Und warum sehen die Menschen so gar nicht japanisch aus?

Die Antwort auf diese Fragen hat einen so geringen Mystery-Faktor, dass Sie den Soundtrack jetzt besser stoppen: Der Titel des Wettbewerbs lautete nämlich “Mach dir ein Bild vom Klima” und genau das ist der Grund, warum auch die anderen Bilder im Wettbewerb ziemlich apokalyptisch wirken.

Bei der “Fuldaer Zeitung” ist das eigentlich bekannt:

[Monja G.] habe damals versucht, für den Wettbewerb mit dem Thema “Klima” möglichst viele entsprechende Probleme in der Illustration unterzubringen. Sie habe sich damals an die Tsunami-Wellen von 2004 erinnert, und von der Tschernobyl-Katastrophe hat sie viel gehört (…)

Dennoch schreibt die Autorin nur einen Absatz später, als hätte es das Rahmenthema des Wettbewerbs nie gegeben und als wäre Monja gerade einmal sieben Jahre alt gewesen als sie das Bild anfertigte:

Monjas Bild ist erschreckend, beklemmend (…). Keine hübsche Blumenwiese, keine freundliche Sonne am hellblauen Himmel, die die Erde in einen paradiesischen Zustand taucht, keine friedliche Naturwelt waren dargestellt, wie so oft der Fall in dieser Altersklasse. Statt dessen: beängstigende Wirklichkeit.

Immerhin dient die ganze künstliche Aufregung einem guten Zweck:

Damit Monja ihr Werk behalten kann, will die VR-Bank Faksimiles in A3-Größe, also Nachdrucke, erstellen. Diese sollen für eine Spende ab zehn Euro abgegeben werden.

Die Spendenbereitschaft würde vermutlich deutlich ansteigen, wenn sich Monja in Zukunft auf Lottozahlen spezialisiert und dabei am besten nicht immer alle 49 dafür in Frage kommenden Zahlen malt.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Louis van Gaal, Holger Kreymeier, Hugh Grant

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Tsunami? Interessiert doch keinen mehr!”
(tokyofotosushi.wordpress.com, Fritz Schumann)
Nikki Tsukamoto Kininmonth hat Journalisten in Japan begleitet: “Sie waren respektvoll den Leuten gegenüber und fragten mich oft, wie sie sich korrekt verhalten sollten. Manchmal hat ihre Suche nach großen Geschichten mich in unangenehme Situationen gebracht. Fragen wie ‘Wo sind hier die meisten Leute umgekommen?’ – während nach wie vor tausende vermisst sind oder Totenscheine von trauernden Angehörigen ausgefüllt werden.”

2. “Abschiedsinterview”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
“tz”-Reporter Jan Janssen verfolgt während einer Woche den Fußballtrainer Louis van Gaal und führt darüber Protokoll: “Gehen sie weg! Sie verfolgen mich! Das ist unglaublich! Ich werde keinen Kommentar geben.”

3. “Fernsehen als verpasste Chance”
(dctp.tv, Video, 33:07 Minuten)
Philip Banse befragt Holger Kreymeier zu seiner Arbeit auf Fernsehkritik.tv. Zur Sprache kommen unter anderem sein früherer Job beim NDR, die GEZ, Call-In-Gewinnspiele und die Rückmeldungen der Zuschauer.

4. “Das Märchen vom Marktwert”
(taz.de, René Martens)
Die Produktion öffentlich-rechtlicher Talkshows wie “Anne Will”, “Beckmann” oder “Hart aber fair” wird von privaten Firmen geleistet. “Die ARD lagert die Produktion an Firmen aus, an denen die Moderatoren beteiligt sind. Sie zahlt im Rahmen eines Zwei- oder Dreijahresvertrags eine fixe Summe für Produktionskosten, Redaktion und Moderation. Das Moderatorenhonorar betrage dabei bis zu 20.000 Euro pro Sendung, sagt Heiko Hilker, Rundfunkratsmitglied beim MDR.”

5. “The bugger, bugged”
(newstatesman.com, Hugh Grant, englisch)
Schauspieler Hugh Grant zeichnet heimlich ein Gespräch mit einem Ex-Paparazzo der in Abhörskandale verstrickten britischen Boulevardzeitung “News of the World” auf.

6. “Hilfe, die Stockmenschen leben unter uns! Wie BILD.de seine Leser für stockdumm verkauft”
(mediensalat.info, Ralf Marder)
Stockmenschen? Stockmänner? Stockwesen? Ralf Marder über den Bild.de-Mystery-Artikel “US-Rentner filmt angeblich Stockmenschen aus dem All”.

E.T. nach Hause twittern

An den Nachrichten aus dem “Mystery-Ressort” von Bild.de, wo sich alles um Aliens, Ufos und Übersinnliches dreht, ist in der Regel nur eines mysteriös: Nämlich wie sie zustande kommen. Ein schönes Beispiel dafür ist diese bahnbrechende Behauptung:

Wissenschaftler behaupten: Aliens wollen über Twitter mit uns kommunizieren

Zugrunde liegt der ganzen Geschichte eine Studie des kalifornischen Wissenschaftlers James Benford, der die Theorie aufgestellt hat, die Art und Weise, in der derzeit nach außerirdischen Signalen gesucht wird, sei nicht effektiv.

Benford und seine Kollegen glauben, dass man bislang auf den falschen Frequenzen versucht hat, extraterrestrische Nachrichten zu empfangen. Ihrer Meinung nach würden Aliens aus ökonomischen Gründen eher dazu neigen, sehr kurze Nachrichten in möglichst viele Richtungen zu versenden.

Unglücklicherweise benutzt Benford, um die Kürze dieser Nachrichten anschaulicher zu machen, folgenden Vergleich:

“This approach is more like Twitter and less like ‘War and Peace,’ ” said James Benford, founder and president of Microwave Sciences Inc., in Lafayette, Calif.

Übersetzt bedeutet das:

“Man muss sich das eher wie Twitter(-nachrichten) vorstellen und weniger wie ‘Krieg und Frieden’“, sagte Dr. James Benford, Gründer und Präsident der Firma Microwave Sciences in Lafayette, Kalifornien.

Der Microbloggingdienst Twitter steht mit seinen maximal 140 Zeichen symbolisch für äußerst kurze Nachrichten, der umfangreiche vierteilige Roman von Leo Tolstoi für die langen Nachrichten, nach denen bislang gesucht wurde. Das kann man auch im Online-Auftritt der “Daily Mail” nachlesen, auf den sich Bild.de beruft. Zwar sind die Überschrift (“Is ET using Twitter?”) und die Einleitung etwas irreführend, der Rest des Artikels gibt jedoch die tatsächlichen Erkenntnisse wieder.

Nicht so bei Bild.de: In der Bildunterschrift zu einem mit Aliens verzierten Screenshot der Startseite von Twitter wird fröhlich verkündet:

Vorbei die Zeiten, als Aliens wie E.T. noch telefonieren wollten: Längst wird getwittert!

Und weiter:

#erde #homo_sapiens 367fgub dsf3 – so könnte eine Alien-Nachricht auf Twitter aussehen.

Im Text vermengen sich dann Fakten mit der blühenden Fantasie des Bild.de-Autoren:

Doch auch Außerirdische verhalten sich ökonomisch, würden daher Kurznachrichten mit nur 1 bis 10 Gigaherz vorziehen, wie sie auf der Erde über die Internet-Community „Twitter“ gezwitschert werden.

Benford empfahl zwar tatsächlich, man solle sich nicht nur wie bislang auf die Frequenzen zwischen einem und zwei Gigahertz konzentrieren, sondern auch solche bis 10 Gigahertz berücksichtigen. Gezwitschert wird jedoch – und das sollte sich inzwischen bis zu Bild.de herumgesprochen haben – immer noch im Internet und nicht auf irgendwelchen Frequenzen.

Für Außerirdische, die noch nicht auf der Erde sind, wäre Twitter somit völlig uninteressant, auch wenn Bild.de fantasiert:

Der Mikroblogging-Dienst wäre für Außerirdische also das ideale Kommunikationsmittel.

Und:

Dann sollten wir in Zukunft wohl besonders auf seltsame Kurznachrichten achten. Vielleicht kommen diese ja direkt aus dem All…

Vielleicht sollten wir in Zukunft seltsame Quatschnachrichten einfach ignorieren. Die kommen nämlich mit Sicherheit direkt von “Bild Mystery”.

Mit Dank an Berkan T.

Bild  

Paolo Guerreros Rückkehr auf Raten

Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass es – wenn auch nicht zwingend auf der Erde, dann doch wenigstens in irgendeinem Paralleluniversum – zwei Paolo Guerreros gibt, zwei Europa-League-Achtelfinal-Heimspiele des HSV gegen den RSC Anderlecht und zwei Kai-Uwe Hesses.

Es wäre die einzig rationale Erklärung für das, was da seit gestern Abend auf Bild.de steht:

Um 21.13 Uhr ging der Spielbericht von Kay Fette und Kai-Uwe Hesse zum 3:1-Sieg des HSV gegen Anderlecht online, der heute auch in der gedruckten “Bild” steht.

Darin:

Zweite gute Nachricht: Paolo Guerrero (26/Kreuzbandriss) ist wieder da! Nach vier abgebrochenen Flugversuchen wegen Flugangst landet der Stürmer gestern in Hamburg, schaut sich ab der 2. Hälfte das Spiel im Stadion an.

Sogar ein Foto des Rückkehrers hatte es in die Bildergalerie geschafft:

Ein alter Bekannter hat auch den Weg von Peru bis ins Stadion gefunden: Paolo Guerrero, der wegen seiner Flugangst in Lima festsaß.

So weit, so richtig.

Mehr als zwei Stunden später, um 23.25 Uhr, veröffentlichte Bild.de einen Artikel von Kai-Uwe Hesse und Carmen Kayser, der sich ausschließlich mit der etwas schwierigen Rückreise Guerreros aus Peru beschäftigt.

Dort heißt es:

Er verschwand am Flughafen durch einen Nebenausgang, ließ sich von einem Freund abholen und nach Hause bringen. Auf einen Besuch des Anderlecht-Spiels verzichtete er.

Vielleicht doch ein Fall fürs “Mystery”-Ressort von Bild.de.

Inwiefern Guerreros Reise “ein geheimer 15-Stunden-Trip” war, wie Bild.de behauptet, ist auch nicht ganz klar: In der TV-Übertragung des Spiels auf Sat.1 hieß es bereits recht früh, dass Guerrero im Stadion erwartet werde.

Mit Dank an Frank D., Oliver M., Daniel S., W.S. und Andreas.

Hinweis/Korrektur, 13.19 Uhr: Das musste ja abfärben: Jetzt hatten wir Paolo Guerrero doch ernsthaft erst “Paulo” genannt in der Überschrift. Jetzt stimmt’s.

20.35 Uhr: Und die Europa League hatten wir auch falsch geschrieben. Entschuldigung!

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