dpa  

Lehren aus Bluewater

Die Nachrichtenagentur dpa hat Konsequenzen aus dem “Bluewater”-Debakel der vergangenen Woche gezogen. Sie war in der vergangenen Woche erstaunlich treuherzig und hartnäckig auf die Falschmeldung von einem echten oder vorgetäuschten Selbstmordanschlag in einer amerikanischen Kleinstadt hereingefallen (BILDblog berichtete: Teil 1, Teil 2).

Vor allem wurde der einfache journalistische Grundsatz missachtet: Eine Story, die zu gut ist, um wahr zu sein, ist vermutlich genau dies: nicht wahr.

Wolfgang Büchner

Der stellvertretende Chefredakteur Wolfgang Büchner, der erst vor wenigen Monaten von “Spiegel Online” zu der Agentur gewechselt ist, formulierte “sechs Lehren aus Bluewater”, die im Intranet von dpa veröffentlicht wurden und BILDblog vorliegen. Zum Teil handelt es sich um bloße Erinnerungen an klassische journalistische Grundsätze wie den, dass Richtigkeit vor Schnelligkeit geht. Büchner stellt aber auch dezidierte Regeln auf, wie mit exklusiven Informationen und zweifelhaften Quellen zu verfahren sei. Außerdem sollen die dpa-Redakteure in Zukunft ein Werkzeug an die Hand bekommen, das ihnen helfen soll, die Authentizität einer Internetseite richtig einzuschätzen.

Sechs Lehren aus Bluewater

Bei der Berichterstattung über den erfundenen Terroranschlag von Bluewater sind uns schwere Fehler unterlaufen.

Vor allem wurde der einfache journalistische Grundsatz missachtet: Eine Story, die zu gut ist, um wahr zu sein, ist vermutlich genau dies: nicht wahr. Es ist absolut unplausibel, dass die dpa als einziges Medium exklusiv von einem Terroranschlag in den USA erfährt und dort nur ein lokaler TV-Sender darüber berichtet. Je größer und unwahrscheinlicher eine Story ist, desto gründlicher müssen wir sie überprüfen.

Wir haben darüber hinaus organisatorisch nicht angemessen auf die Lage reagiert. Eine Nachricht dieser Potenz darf niemals nebenbei von einem Slot bearbeitet werden.

Daher gelten ab sofort schärfere Regeln für den Umgang mit exklusiven Informationen:

Im Wettbewerb mit der Konkurrenz geht Richtigkeit immer vor Geschwindigkeit.

Organisation: bei exklusiven Informationen, die das Potenzial haben, zur Nachricht des Tages zu werden, werden künftig sofort vom CvD/Ressortleiter mindestens zwei Mitarbeiter zur Verifizierung von Informationen und Recherche freigestellt. Diese Taskforce widmet sich dann ausschließlich der Berichterstattung über dieses Thema. Das gilt auch in dem Fall, dass der dpa ein schwerer Fehler unterlaufen ist und dieser aufbereitet und gegenüber den Kunden dokumentiert werden muss.

Ortskompetenz: Der ortsansässige Korrespondent wird immer hinzugezogen – unabhängig von der Uhrzeit.

Recherche: Bei zweifelhafter Quellenlage ist die Berichterstattung über einen zusätzlichen “Ring der Überprüfung” abzusichern. Nicht nur die lokale Behörde, sondern mindestens eine übergeordnete Stelle muss die Information bestätigen können (z.B. in den USA die Heimatschutzbehörde oder der jeweilige Bundesstaat). Bei Auslandsthemen sind unbedingt die großen nationalen Medien zu beobachten. Bestehen Zweifel an der Identität eines Anrufers oder an der Richtigkeit einer Telefonnummer, lohnt parallel der Weg über die Auskunft.

Internetquellen: Jeder Mitarbeiter soll in die Lage versetzt werden, die Echtheit von Domains kompetent zu überprüfen. Die dpa-infocom entwickelt ein neues, einfach zu bedienendes Überprüfungs-Tool, mit dem jeder Mitarbeiter einen ersten Plausibilitätscheck vornehmen kann.

Transparenz: Tauchen Zweifel an der Korrektheit gesendeter Meldungen auf, sind unsere Kunden von Anfang an per Achtungshinweis zu informieren. Auch wenn vielleicht noch viele Fragen ungeklärt sind – die Bezieher des dpa-Dienstes werden so früh wie möglich in einem Achtungshinweis informiert. Dieser kann nach folgendem Strickmuster formuliert sein: “Es gibt berechtigte Hinweise, dass … Bitte verwenden Sie die Meldung 0000 deshalb vorerst nicht. Die dpa prüft … und wird Sie informieren, sobald es neue Erkenntnisse gibt.” (…)

Wolfgang Büchner
11.09.2009

TV-Duelle, Kamera-Kriege, Krisen-Thesen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “TV-Duell: Eine journalistische Katastrophe “
(blog.zeit.de, Jörg Lau)
Jörg Lau ist mit den Moderatoren des TV-Duells zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier nicht zufrieden: “Statt die Kontrahenten zu den Inhalten zu befragen, wurde sofort auf die Metaebene ausgewichen: Sind Sie nicht ein altes Ehepaar? Wann wird der Wahlkampf endlich unterhaltend? (Als ginge es darum!) Wollen Sie nicht in Wahrheit eine zweite Große Koalition gründen? (Als wäre das nicht dem Wähler vorbehalten.)”

2. “Haben Sie doch Interesse!”
(faz.net, Jürgen Kaube)
Jürgen Kaube bemerkt: “Maybrit Illner und Frank Plasberg unterbrachen die Kandidaten mitunter nachgerade, als hätten die Moderatoren sich nicht nur die Fragen, sondern auch gleich noch die richtigen Reaktionen notiert und stellten nun unwirsch fest, dass das Personal falsch antworte.”

3. “Der TV-Journalismus hat verloren”
(carta.info, Robin Meyer-Lucht)
Und auch Robin Meyer-Lucht sieht den Journalismus als Verlierer des Abends: “Das ‘Duell’ war nicht die Feier einer Fernsehkultur, wie es sich die Veranstalter erhofft hatten. Es war der Bankrott eines TV-Journalismus, der sich in den letzten Jahren zum dominanten Paradigma der Bewegtbild-Politikvermittlung hochgedient hat.”

4. “Der Krieg der Kameras”
(blogs.sueddeutsche.de/schaltzentrale, Johannes Boie)
Johannes Boie kritisiert die Veröffentlichung eines nicht-anonymisierten Videos (das kurzzeitig auch bei ihm zu sehen war, wie er in den Kommentaren zugibt): “Auf den Videos, die vor allem von Datenschutzaktivisten verbreitet werden, ist zum Beispiel keine Person anonymisiert. So sehr man den Polizisten beim Anblick der Schläge auch eine harte Bestrafung wünscht, hätte es nicht gereicht, den Ermittlungsbehörden die Gesichter des Polizisten zu zeigen?”

5. 5 Krisen-Thesen
(dirkvongehlen.de)
Dirk von Gehlen liefert fünf ausführliche Thesen zur Zeitungskrise: “1. Der Leser wird zum Nutzer, 2. Zeitungen sind viel mehr als bloße Mittler zwischen Anzeigenkunden und Lesern, 3. Erfolgreiche Zeitungen verkaufen nicht nur Nachrichten, 4. Es geht um Zugang, nicht um Content” und “5. Der aktive Rezipient wird zum (zahlenden) Mitglied.”

6. “Eleven Things I’d Do If I Ran a News Organization”
(mediactive.com, Dan Gillmor)
Und Dan Gillmor zählt 11 Dinge auf, die er tun würde, wenn er ein Nachrichtenunternehmen führen würde.

Bild  

Entwarnung: al-Masri doch durchgeknallt

Man darf den Presserat mit seinem drolligen Arsenal munitionsloser Waffen nicht unterschätzen. Bei einem sensiblen Medium wie der “Bild”-Zeitung kann eine Rüge von diesem Gremium nachhaltige Verletzungen hinterlassen.

Diese Sache mit Khaled al-Masri zum Beispiel, die nagt immer noch an “Bild”. Der Presserat erklärte vor zwei Jahren, “Bild” hätte “in ehrverletzender Art und Weise” über den Mann berichtet — dabei haben die feinen “Bild”-Redakteure Ulrike Brendlin und Hans-Jörg Vehlewald das CIA-Folteropfer doch nur verächtlich gemacht, seine Qualen heruntergespielt, seine juristischen und publizistischen Schritte als “Terror” bezeichnet, ihn “irre” und einen “durchgeknallten Schläger” genannt und einen Artikel verfasst, den Hans Leyendecker von der “Süddeutschen Zeitung” mit den Worten “niederträchtig und verworfen” beschrieb.

Die Rüge hat “Bild” nachhaltig verstört. Schon dass der Pressekodex überhaupt auch für einen “ehrenwerten Staatsbürger” gilt, wie “Bild” al-Masri ironisch nannte! “Irre! Presserat rügt BILD wegen dieses Brandstifters”, titelte das Blatt und vergaß vor lauter Fassungslosigkeit zu erwähnen, warum es eigentlich gerügt wurde, so dass es der Presserat in einer eigenen Presseerklärung extra noch einmal erklären musste: Die Zeitung habe “über einen Kranken, der möglicherweise durch die Entführung traumatisiert wurde, unter Missachtung dessen gesundheitlicher Situation in ehrverletzender Art und Weise berichtet”.

Bis heute will “Bild” nicht verstehen, dass ihr niemand grundsätzlich das Recht abgesprochen hat, über Khaled al-Masri und seine Ausfälle zu berichten. Die Zeitung erweckt den falschen Eindruck, man wolle sie daran hindern, die Wahrheit zu schreiben. Als der Mann nun den Neu-Ulmer Oberbürgermeister angriff und verletzte, tat sie deshalb so, als würde das ihre verbalen Ausfälle gegenüber al-Masri in irgendeiner Weise nachträglich rechtfertigen, und schrieb am Samstag:

PS: Wieder einmal nutzt “Bild” die Leserbriefspalte dazu, die eigene Meinung und die Vorurteile der Leser zu verstärken. Im Dienst der schlechten Sache diesmal wieder — Birgit S. aus Aschersleben:

Zu: El Masri verprügelt Bürgermeister / Ich kann nicht begreifen, warum dieser Mensch überhaupt noch auf freiem Fuß ist. 2007 wurde er auf Bewährung verurteilt wegen Beleidigung, Hausfriedensbruch und Brandstiftung, zuvor hatte er einen Dekra-Prüfer krankenhausreif geschlagen. Nun ist er wieder ausgerastet. Aber das ist ja normal in diesem Staat. Unsere Justiz ist zu feige, ausländische Kriminelle zu verurteilen. / Birgit S. , Aschersleben (Sachsen-Anhalt)

Dazu wäre zweierlei zu sagen: Al-Masri ist seit 15 Jahren deutscher Staatsbürger. Und Frau S. eine alte Bekannte.

Allein im vergangenen Jahr hat “Bild” elf Leserbriefe von ihr veröffentlicht, Schwerpunkte: schlechtes Fernsehen, fiese Politiker und böse Ausländer.

Leser schreiben in “Bild”: Birgit S. (kleine Auswahl):

Zu: Islam-Terroristen verhöhnen deutsches Gericht
Ich weiß gar nicht, warum der Prozess zwei Jahre dauern soll. Leute, die viele Menschen in den Tod reißen wollen, gehören für immer weggesperrt.
(24.4.2009)

Zu: Gülsüm (†20) vom eigenen Bruder totgeknüppelt
Schon wieder wurde ein junges Mädchen so grausam ermordet, nur weil es die Lebensweise, die in Deutschland üblich ist, annehmen wollte. Wann begreifen diese Leute endlich, dass sie in Deutschland leben? Diese Verbrecher müssten in der Türkei ihre Strafe absitzen.
(4.4.2009)

Zu: Morsals Ehrenmörder hinter Panzerglas
Wann begreifen denn die Leute endlich, dass sie in Deutschland leben und sich hier an die Gepflogenheiten zu halten haben! Wieder muss über einen Ehrenmord verhandelt werden. Ein paar Tränen und es gibt Bewährung, obwohl ein Menschenleben geopfert wurde, nur weil die Schwester sich hier anpassen wollte.
(18.12.2008)

Zu: U-Bahn-Schläger mit Stinkefinger in den Knast
Endlich mal ein gerechtes Urteil. Ich hatte schon den Glauben an die Justiz verloren. Nur eines muss noch kommen: dass diese Herren ausgewiesen werden. (10.7.2008)

Zu: Deutsche Geisel wurde ermordet
Nun ist es raus. Aber wusste das nicht schon jeder, wollte daran aber nicht glauben? Hoffentlich werden die Angehörigen entschädigt für so ein grausames Verbrechen. Man geht in ein Land, um Geld zu verdienen oder zu helfen – und was ist der Dank? Man wird von solchen Leuten erschossen. Da gibt’s nur eines: Raus aus Afghanistan!
(4.8.2007)

Zu: Deutscher Junge (17) in Türken-Knast
Ich bete zu Gott, dass der Junge so schnell wie möglich wieder rauskommt.
(26.6.2007)

ddp  

Nachruf mit Fehler

Es ist kein Geheimnis, dass Nachrufe auf bedeutende Persönlichkeiten oft schon lange im Voraus geschrieben werden, damit sie erstens möglichst schnell vorliegen und zweitens keine Flüchtigkeitsfehler mehr beinhalten.

Einigermaßen tragisch ist daher, was dem Deutschen Depeschendienst (ddp) jetzt passiert ist, als der seinen Mitbegründer Martin E. Süskind würdigen wollte, der am Samstag nach schwerer Krankheit verstorben ist:

Zwei Jahre später wechselte er zur "Süddeutschen Zeitung" und war ab 1975 einige Jahre als Redenschreiber für den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt tätig.

1975 war Brandt schon nicht mehr Bundeskanzler.

Die ddp-Meldung findet sich zur Zeit bei “Spiegel Online”, “RP Online” und – milde umfrisiert, aber an der entscheidenden Stelle unverändert – beim Mediendienst Meedia.

Der ddp-Konkurrent dpa hat die Geschichte ironischerweise richtig in Erinnerung:

Süskind war ab 1975 auch Redenschreiber des damaligen SPD- Vorsitzenden und Ex-Bundeskanzler Willy Brandt (SPD).

Mit Dank an Andreas H.

Nachtrag, 20:40 Uhr: “RP Online” und Meedia haben ihre Formulierungen inzwischen geändert. Meedia weist auf diese Änderung sogar in den Kommentaren hin.

2. Nachtrag, 22:20 Uhr: Auch “Spiegel Online” hat den Fehler jetzt transparent korrigiert.

“Berühmter Fotograf” nicht berühmt genug

So klingt es also, wenn Bild.de in Verzückung gerät:

Heidi Klum (36) – Topmodel, Geschäftsfrau, bald Vierfach-Mama und verdammt sexy!

Der berühmte Fotograf David Rankin hat Deutschlands schönstes Model in Szene gesetzt. Ergebnis: der Bildband “Heidilicious”, der im Herbst erscheint.

Der Haken: Das Buch stammt gar nicht vom “berühmten Fotografen David Rankin”, sondern von John Rankin Waddell, der seine Arbeiten unter dem Künstlernamen Rankin veröffentlicht. Das hat das Blog Nackt & Nebel festgestellt.

Einen berühmten Fotografen namens David Rankin gibt es aber trotzdem — wenn auch offenbar ausschließlich in Veröffentlichungen des Axel-Springer-Verlags.

So schrieb die “Berliner Morgenpost” am 25. März 2009:

Zwölf Topmodel-Anwärterinnen posierten dafür in Los Angeles an einer Straßenkreuzung in Unterwäsche und künstlich erzeugtem Regen für den Starfotografen David Rankin. Kandidatin Maria, so verrät Heidi Klum jetzt im Vorfeld, “ist die Einzige, bei der Rankin direkt gesagt hat, die würde er sofort für einen Job buchen”.

Die “Bild am Sonntag” verkündete am 14. September 2008:

Das deutsche Topmodel gehört noch immer zu den schönsten Frauen der Welt. Das beweist diese Aufnahme von Star-Fotograf David Rankin (52), die vom 20. September bis 9. November im Rahmen der Ausstellung “Traumfrauen” im Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg gezeigt wird.

Und wiederum in der “Morgenpost” war am 3. Juni 2006 zu lesen:

Am freizügigen Blick auf den weiblichen Körper scheiden sich nach wie vor die Geister. Vielleicht weil Badekleidung heute “nichts weiter als verpackter Sex” ist, wie der englische Top-Fotograf David Rankin meint.

(Das Zitat stammt natürlich vom echten Rankin.)

Mit Dank auch an Cabronsito!

Nachtrag, 14:05 Uhr: Unser Leser Thomas weist uns darauf hin, dass auch der “Stern” dem Fotografen Rankin schon einen “David” verpasst hat: Im Vorspann zu diesem Artikel und – wesentlich konsequenter – in der Pressemitteilung zum “Stern Spezial Fotografie” über ihn.

2. Nachtrag, 19:05 Uhr: Als Erklärungsversuch verweist unser Leser Mattes darauf, dass auch Amazon.de Bücher von Rankin unter “David Rankin” führt.

AP  

Obama rangelt weltexklusiv in Deutschland

Internationale Nachrichtenagenturen haben gegenüber ihren nationalen Konkurrenten einen großen Vorteil: Anstatt für die Auslandsberichterstattung nur auf kleine Korrespondentenbüros und Partner-Agenturen zu setzen, haben sie das breite Wissen der ganzen Welt direkt zur Verfügung.

Und so verwundert es nicht, dass Associated Press (AP) am Wochenende seinen deutschen Kunden eine Story anbieten konnte, von denen dpa und Co. noch nichts mitbekommen hatten: der verbitterte Kampf zwischen US-Präsident Obama und Gegnern seiner Gesundheitsreform hatte eine neue, eine physische Ebene erreicht.

Am Samstag, um 23:15 Uhr meldete der deutsche Dienst der Nachrichtenagentur:

“Ich werde den Status quo nicht als Lösung akzeptieren — niemals!” sagte Obama am Samstag vor rund 15.000 Menschen in Minneapolis im US-Staat Minnesota. Zwischenrufer wies er zurecht und versuchte zu einem Zeitpunkt sogar, ihnen das Megafon zu entreißen.

Welche Sensation da über ihre Schreibtische ging, realisierten die AP-Redakteure wohl erst am Sonntag. Ein amtierender Regierungsschef im körperlichen Clinch mit dem Wähler? So etwas haben wir hierzulande schon lange nicht mehr gesehen.

Um 10:48 hoben sie die Auseinandersetzung zwischen Obama und den Zwischenrufern erstmals in die Überschrift:

Kampf um US-Gesundheitsreform immer härter /
Obama versucht Zwischenrufern Megafon zu entreißen — Gegner beleidigen Präsidenten mit Hitler-Bärtchen

Nicht weniger als drei weitere Meldungen schilderten die Auseinandersetzungen, ließen aber jegliches weitere Detail vermissen. Zwar gab es viele schöne Fotos von den Demonstranten in Washington und Obama in Minneapolis. Doch den Moment der sicherlich spektakulär anzusehenden Konfrontation hatten die versammelten Fotografen und Fernsehkameras versäumt.

Trotzdem fand die Meldung über die Auseinandersetzung ihren Weg in die Medien: zur österreichischen “Krone”, “Yahoo”, heute.at und ins Online-Angebot des “Handelsblatt”. Dort entschied man sich, den Vorfall ein wenig plastischer zu schildern:

Alleine: Ein Gerangel hat es nie gegeben, und die Zwischenrufe bei Obamas Rede zeichneten sich allenfalls durch gut orchestrierte Begeisterung aus. Die Konfrontation entstammte einfach der etwas blumigen Formlierungskunst des AP-Autoren Jim Kuhnhenn. Der schrieb im amerikanischen Original:

President Barack Obama assailed critics of his health care initiative Saturday, seeking to grab the megaphone from his opponents and boost momentum in his drive for congressional passage of his chief domestic priority.

(Deutsch etwa: Präsident Obama griff am Sonntag Samstag Kritiker seiner Gesundheitsreform-Initiative an und versuchte, seinen Gegnern das Megaphon zu entwinden und seinem wichtigsten innenpolitischen Projekt für die Abstimmung im US-Kongress neuen Schub zu verleihen.)

Das war zweifellos nur metaphorisch gemeint — die Megaphone der Kritiker waren schließlich über 1000 Meilen vom Präsidenten entfernt. Wenig später veröffentlichte AP in Amerika eine sprachlich entschärfte Version.

Den Kollegen in Übersee hat jedoch offenbar bisher niemand Bescheid gegeben.

CNN, AFP, Stuckrad-Barre

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Falscher Alarm in Washington”
(nzz.ch, Gerd Brüggemann)
Am Gedenktag für den 11. September 2001 hält der TV-Sender CNN eine mehrmals wöchentlich stattfindende Übung der Küstenwache für einen Terrorangriff.

2. Staat bald einziger Aktionär der AFP?
(diepresse.com, Rudolf Balmer)
Die drittgrößte Presseagentur der Welt, die Agence France Presse, “soll im kommenden Jahr in eine Aktiengesellschaft nur mit staatlichen Teilhabern umgewandelt werden”. Das schlägt AFP-Chef Pierre Louette der Regierung vor.

3. Interview mit Mark Danner
(training.dw-world.de, Steffen Leidel)
US-Journalist Mark Danner veröffentlichte einen “streng geheimen Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC) über Folter in Guantanamo”. In einem Gespräch dazu erklärt er, warum er das gemacht hat: “Wenn Sie als Journalist arbeiten, dann ist es ihr Job, Dinge öffentlich zu machen und nicht, sie geheim zu halten. Etwas, das das öffentliche Interesse in offensichtlicher Weise berührt, muss öffentlich gemacht werden. Eine Regierung kann ein Interesse an Geheimhaltung haben, aber nicht ein Journalist.”

4. “Journalisten im Netz”
(fr-online.de, Daniel Bouhs)
Wie Journalisten mit den Informationen aus dem riesigen Brunnen Web 2.0 umgehen: “Sie können aus dem nicht enden wollenden Material schöpfen. Manche bejubeln das. Altgediente aber verteufeln die neuen Medien oft noch immer.”

5. Porträt von Benjamin von Stuckrad-Barre
(cicero.de, Christine Eichel)
Lesenswertes Porträt von Benjamin von Stuckrad-Barre, Schriftsteller und Journalist bei “Welt” und “B.Z.”: “Ich halte nichts von ironischer Distanz, wenn ich über Politiker schreibe. Mir tun sie wirklich leid. Aller Spott, der gratis ist, wäre zu einfach. Sie haben meinen größten Respekt. Auch wenn sie die Sprache oft übel zurichten.”

6. US-Präsident beklagt den gegenwärtigen Zustand des Journalismus
(cbsnews.com, Brian Montopoli, englisch)
Barack Obama: “‘What happened today?’ is replaced with ‘Who won today?’ The public debate cheapens. The public trust falters. We fail to understand our world or one another as well as we should – and that has real consequences in our own lives and in the life of our nation.”

Bild, Bild.de  etc.

Michael Jackson beim Sterben zusehen

Michael Jackson: Hier verliert er den Kamp um sein Leben“Unangemessen sensationell” hat die “Bild”-Zeitung nach Meinung des Deutschen Presserats schon oft berichtet — diesmal über den Tod von Michael Jackson. Am 27. Juni hatte “Bild” auf der Titelseite ein riesiges Foto veröffentlicht, auf dem Jackson auf einer Trage liegend und an Beatmungsgeräte angeschlossen zu sehen war (Ausriss rechts oben, Verpixelung von uns). In Kombination mit der Überschrift “Hier verliert er den Kampf um sein Leben” entstehe bei Lesern der Eindruck, einem Menschen unmittelbar beim Sterben zuzusehen. Der Beschwerdeausschuss sieht darin einen Verstoß gegen die Menschenwürde und hat “Bild” für diese Titelseite gerügt. Auch bei einem Popstar wie Jackson könne “das legitime Informations- und Unterhaltungsinteresse des Publikums nicht jeden Eingriff ins Persönlichkeitsrecht rechtfertigen”.

Aus dem Pressekodex

Richtlinie 11.1:
Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird.

Auch Bild.de wurde gerügt: Dort war im Zuge der Berichterstattung über Jacksons Tod ein “grausam entstelltes, computergeneriertes Bild des Toten ohne Haare” (O-Ton Presserat) veröffentlicht worden, unter dem stand: “so in etwa könnte Jackson bei der Obduktion ausgesehen haben”. Der Presserat erklärte, Details über den Zustand seiner Leiche, die zudem auf Spekulationen beruhten, gehörten in die Privatsphäre des Verstorbenen und seien auch durch das öffentliche Interesse am Tod des Popstars und den Umständen nicht gedeckt. Die Darstellung wurde daher als schwerwiegender Eingriff in die postmortalen Persönlichkeitsrechte beurteilt.

Ebenfalls gerügt wurde Bild.de wegen der Veröffentlichung von Bildern einer amerikanischen Überwachungskamera, auf denen zu sehen war, wie eine Mutter auf einem Schießstand erst ihren Sohn und dann sich selbst erschoss, und die nach Ansicht des Presserats allein dazu dienten “zu schockieren”, sowie für die fiktive Darstellung eines brutalen Überfalles von Neonazis auf einen jungen Mann. (Solche Zeichnungen benutzt “Bild” in letzter Zeit öfter, um auch die schlimmsten Dinge, von denen es zum Glück keine Bilder gibt, zeigen zu können.) In beiden Fällen sah der Presserat die Veröffentlichungen als “unangemessen sensationell” an.

Weitere Rügen sprach der Presserat aus gegen:

  • die Zeitschrift “Das neue Blatt”, weil sie eine detaillierte Schilderung über die angeblich schwer demenzkranke Schauspielerin Doris Day ohne eigene Recherche und ohne jegliche Quellenangabe aus anderen Veröffentlichungen übernommen hatte.
  • die “Schwäbische Zeitung”, weil sie in der Berichterstattung über einen Streit innerhalb der Familie des Ortsvorstehers eines kleinen Ortes über den Gesundheitszustand der Schwester des Ortsvorstehers spekuliert hatte, woran nach Ansicht des Presserats kein öffentliches Interesse bestand.
  • die Fernsehbeilage “Prisma”, die mal wieder Schleichwerbung für medizinische Präparate in einem Artikel versteckt hatte.

Zur Pressemitteilung des Presserats.

Riepl, Ronaldo, Teenie-Blogger

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Rieplsche Fata Morgana”
(handelsblatt6.blogg.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer analysiert die Liebe vieler Medienmenschen zum “Rieplschen Gesetz” und meint: “Wenn Herr Riepls Dissertation der Rettungsring der Medienhäuser ist, dann ist die Empfehlung, einen Schwimmkurs zu belegen, nicht die schlechteste.”

2. “Warum Kassieren online so schwierig ist”
(spiegel.de, Christian Stöcker)
“Google hat US-Zeitungsverlegern ein System vorgeschlagen, mit dem man für Journalismus im Internet Geld einziehen könnte. Solche Systeme gibt es längst, durchgesetzt haben sie sich aber nie. Reicht die Macht der Suchmaschinisten, auch das Bezahlen im Netz zu revolutionieren?”

3. “Die kommende Blogger-Elite”
(freitag.de, John Crace)
John Crace vom “Guardian” porträtiert Teenie-Blogger (hier im Original).

4. “Mutprobe Nr. 6: Zu Besuch in der Redaktion”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Axel Hacke)
Axel Hacke zieht eine verwegene Mutprobe durch – er besucht die Redaktion der “Süddeutschen Zeitung”.

5. “Der öffentliche Babybauch”
(zeit.de, Ursula März)
In der Rubrik “Gesellschaftskritik” stellt Ursula März prominente Schwangere in Frage, die “ihr wachsendes Bäuchlein in allen Stadien in die Kameras halten”. Denn: “Was sagt eigentlich das Kind zu einem solchen Foto?”

6. ZDF blendet Ronaldo statt Cristiano Ronaldo ein
(youtube.com, Video, 2:32 Minuten)
Fußball: Das ZDF illustriert einen Bericht über Cristiano Ronaldo mit Ronaldo.

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