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“BILD ist mitgelaufen”, leider

“Wir betreiben hier keinen Elends-Tourismus, Drogenkranke werden nicht vorgeführt.”

Das sagen die zwei Männer, die in Frankfurt am Main für Interessierte eine Führung durch das Bahnhofsviertel anbieten, durch jene Gegend also, die auch und vor allem für ihre offene Drogenszene bekannt ist. Der Titel der Tour: “Crack, Koks, Heroin im Bahnhofsviertel – Warum Frankfurt auch ‘Crack-City’ heißt”.

Das Zitat der beiden stammt aus einem großen Artikel, der am vergangenen Freitag in der Frankfurt-Ausgabe der “Bild”-Zeitung und bei Bild.de erschienen ist. Der Ansatz, vorhandene Probleme sichtbar zu machen und die üble Situation der Drogenkranken zu thematisieren, dabei aber keinen Elends-Tourismus fördern und niemanden vorführen zu wollen, ist sehr lobenswert. Ob die “Bild”-Redaktion den gleichen Ansatz verfolgt, da haben wir allerdings Zweifel.

Bereits in der Überschrift klingt es stark nach Elends-Tourismus:

Ausriss Bild-Zeitung - Neue Tour führt in den Drogensumpf im Bahnhofsviertel - Ausflug ins Elend
Screenshot Bild.de - Neue Tour in den Frankfurter Drogensumpf - Crack, Koks, Heroin! 25-Euro-Ausflug ins Elend - Bild ist mitgelaufen

Im Artikel gibt es mehrere Fotos, auf denen Süchtige entweder gerade Drogen konsumieren oder anscheinend kürzlich konsumiert haben und nun benommen auf der Straße sitzen. Was gut ist: Die “Bild”-Redaktion hat alle Gesichter verpixelt oder so fotografiert, dass sie verdeckt sind (wobei wir vermuten, dass das nähere Umfeld der Personen sie durch andere, nicht verpixelte Merkmale trotzdem identifizieren können dürfte). Was hingegen schlecht ist und doch stark nach Vorführen von Drogenkranken aussieht: die dazugehörigen Bildunterschriften. Zu einem Foto eines Mannes, der in einem Hauseingang liegt, schreibt Bild.de beispielsweise:

Das Frankfurter Bahnhofsviertel: Elends-Gestalten, wo man hinblickt

Und noch etwas hämischer zu einem Foto eines Mannes, der offenbar zugedröhnt auf einer Treppe liegt:

Crack-Süchtiger am Ziel seiner Träume…

Einer der zwei Tour-Guides sagt gegenüber “Bild” noch: “Wir wollen eine Lanze für diese Leute brechen.” Auch das ist sehr lobenswert. Aber vielleicht sollte man dann beim nächsten Mal nicht “Bild” mit auf Tour nehmen.

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Bild  

Ja, wie nur?

Heute vor 30 Jahren begannen die rassistisch und fremdenfeindlich motivierten Angriffe in Rostock-Lichtenhagen. Die Attacken richteten sich damals gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber sowie ein Wohnheim für frühere vietnamesische DDR-Vertragsarbeiter.

Bild.de fragt heute:

Screenshot Bild.de - Rechtsextreme Ausschreitungen starteten heute vor 30 Jahren - Wie konnte es zu den Krawallen in Lichtenhagen kommen?

Die wichtigste Frage bei der Aufarbeitung der schrecklichen Ereignisse von 1992 bleibt bis heute: Wie konnte es damals überhaupt so weit kommen?

Als Antwort präsentiert der Artikel gleich mehrere Gründe beziehungsweise Schuldige:

  • die verlorene Arbeit, “Verunsicherung, Perspektivlosigkeit und auch Frust” der Menschen in Rostock-Lichtenhagen
  • die Landesregierung aus CDU und FDP
  • Rostocks Oberbürgermeister Klaus Kilimann
  • Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lothar Kupfer
  • Schlepper, die “auf LKW immer neue Ausländer nach Lichtenhagen” “karrten”
  • “die Politik”
  • die “überforderte Polizei”

Und irgendwie klingt es auch so, als hätten “die mittellosen Asylanten”, die damals in Rostock kampierten, eine Mitschuld am “Frust der Anwohner”:

Die mittellosen Asylanten schliefen unter Decken und Planen auf Wiesen und in Vorgärten. Ihre Notdurft verrichteten sie – aufgrund fehlender Toiletten – im Freien. Der Frust der Anwohner verstärkte sich. Mit ihren Problemen wurden sie alleingelassen.

Was in dem Bild.de-Artikel jedenfalls an keiner Stelle erwähnt wird: die Rolle der Medien damals, speziell die von “Bild”. Daher hier ein kleiner Ausschnitt aus der “Bild”-Berichterstattung im Jahr 1992:

Ausriss Bild-Zeitung - Der Schreckens-Asylant
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Die “Bild”-Redaktion schrieb damals auf der Titelseite:

Wir haben uns lange gefragt, ob wir Ihnen diese Geschichte schildern. Es geht um beispiellosen Mißbrauch des Asylrechts. Aber dieser Fall – er wurde uns von einer deutschen Behörde offziell mitgeteilt – ist kein Einzelfall, sondern ein Dokument. Es beweist, daß der Streit der Politiker um die Asylproblematik jetzt ganz schnell aufhören muß – es muß gehandelt werden. Der Mann, der im Mittelpunkt dieser Geschichte steht, heißt Henry […]. Er ist 41, stammt aus Ghana. Sein Foto zeigen wir aus naheliegenden Gründen nicht – zu aufgeheizt ist die Asyldiskussion. […] Zweimal wurde er ausgewiesen – er kam wieder. Auch jetzt lebt [Henry] wahrscheinlich wieder illegal unter uns. Der Schreckens-Asylant.

Und so ging es weiter bei “Bild”:

Ausriss Bild-Zeitung - Miet-Hai ekelt Deutsche raus - für Asylanten
Ausriss Bild-Zeitung - Die Flut steigt - wann sinkt das Boot? Fast jede Minute ein neues Asylant
Ausriss Bild-Zeitung - Motiv Sex - Falscher Asylant erschlug neun Frauen
Ausriss Bild-Zeitung - Deutsches Essen schlecht - Asylanten im Hungerstreik

Auch nach den Ereignissen in Rostock-Lichtenhagen setzte die “Bild”-Redaktion ihre Art der Berichterstattung fort:

Ausriss Bild-Zeitung - Asylanten jetzt auf Schulhöfe - Neue Welle - und bis Weihnachten kommen noch 400000
Ausriss Bild-Zeitung - Asylanten jetzt auch in Büros
Ausriss Bild-Zeitung - Neue Asylantenschwemme - Kommen zwei Millionen Russen?

Keine drei Wochen, nachdem in Rostock-Lichtenhagen das Wohnheim der Vietnamesen mit Molotowcocktails in Brand gesteckt wurde, am 8. September, brachte die “Bild”-Redaktion diese Titelstory:

Ausriss Bild-Zeitung - Wohnraum beschlagnahmt - Familie muss Asylanten aufnehmen

Zwei Tage später löste die “taz” die “Bild”-Geschichte auf:

Was wirklich geschah: Familie Stegmann, Vater, Mutter und drei erwachsene Kinder, lebten in Lemförde bei Bremen in einer Sieben-Zimmer-Wohnung für 515 Mark kalt. Wegen Eigenbedarf mußten sie ausziehen. Die Gemeinde wies ihnen vorübergehend Räume in einem Obdachlosenhaus in der Pommernstraße zu. Obdachlose haben keine Mietverträge und müssen zweimal monatlich Wohnungssuche nachweisen. Stegmanns leben von drei Einkommen und einer Arbeitslosenunterstüzung. “Wir konnten uns bisher zu keiner neuen Wohnung entschließen”, so Frau Stegmann zur taz, “da uns 1.000 bis 1.200 Mark Miete zuviel sind.”

Gemeindedirektor Petering hat die Unterbringung der beiden polnischen Asylsuchenden in einem Zimmer der Pommernstraße verfügt. Im Zuge der Unterbringung von Obdachlosen und Flüchtlingen ein völlig üblicher Vorgang. […] Stegmanns bewohnen drei Räume. Allen Bewohnern steht mehr Platz zur Verfügung, als die vom Gesetz knapp bemessene Quadratmeterzahl. Bild weiß das! Zieht es aber vor, unberechtigte Ängste zu schüren und damit die alltägliche Hetze gegen Ausländer fortzusetzen. Dieses Blatt könnte der Fidibus am nächsten Molotowcocktail gegen ein Asylbewerberheim sein.

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Balken für den Verdächtigen, Pixel für das Kind, nichts für das Opfer

In Hamburg läuft seit Donnerstag ein Prozess gegen einen Mann, der im Februar dieses Jahres seine damalige Lebensgefährtin erstochen haben soll. Ob der Tatverdächtige überhaupt voll schuldfähig ist, ist wegen einer möglichen posttraumatischen Belastungsstörung bislang nicht sicher.

Bild.de und die Hamburg-Ausgabe der “Bild”-Zeitung berichten heute größer über den Prozessauftakt. Während im Text mehrere “soll”s noch die Unschuldsvermutung garantieren, gibt es auf der Bild.de-Startseite schon einen Schuldspruch:

Screenshot Bild.de - Mutter (25) seiner Tochter mit acht Stichen getötet! - Plötzlich rammte M. (35) ihr das Messer in den Hals

Sowohl online als auch in der gedruckten Zeitung zeigen die “Bild”-Medien das Gesicht des Opfers ohne irgendeine Verpixelung. Der Tatverdächtige hat einen Augenbalken verpasst bekommen. Beim Kind der beiden wurde das Gesicht von “Bild” verpixelt. Alle weiteren Unkenntlichmachungen im Screenshot oben stammen von uns.

Als Quelle des Fotos, das Bild.de auch schon im Februar verwendet hat (auch damals mit Augenbalken für den Verdächtigen, Verpixelung für das Kind, nichts für das Opfer), gibt die Redaktion “Foto: Repro:” sowie den Namen des “Bild”-Reporters an. Das ist in solchen Fällen häufig ein Hinweis darauf, dass der jeweilige Fotograf ein von Trauernden in der Öffentlichkeit aufgestelltes Bild abfotografiert hat. In einem ähnlichen Fall, nachdem “Bild” Fotos von Opfern des Germanwings-Unglücks auf einem Marktplatz abfotografiert und veröffentlicht hatte, erkannte der Deutsche Presserat darin einen Verstoß gegen den Pressekodex: Die “Bild”-Redaktion erhielt eine Rüge, weil das Aufstellen der Fotos, auch wenn es an einem öffentlichen Ort passierte, “nicht für die Medienöffentlichkeit und ohne Zustimmung der Abgebildeten oder Angehörigen” geschah.

Kurz korrigiert (538)

In ihrer Berichterstattung über das Attentat auf den Autor Salman Rushdie versucht die “Bild”-Redaktion, ihrer Leserschaft auch zu erklären, was eine Fatwa ist. In der gedruckten “Bild” erschien gestern extra ein Infokasten zum Thema:

Ausriss Bild-Zeitung - Fatwas auch gegen Frauen

Bei Bild.de ist dieselbe Erklärung im Artikel eingebaut. Im Print wie online steht unter anderem:

“Fatwas” sind zwingende Rechtsverordnungen, die in islamischen Ländern wie Gesetze gelten.

Der Journalist Yassin Musharbash bezeichnet diese Aussage bei Twitter als “eindeutig zu grobkörnig”, und wir würden ergänzen: Sie ist in ihrer versuchten Allgemeingültigkeit schlicht falsch.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung etwa schreibt zu Fatwas:

Eine fatwa ist ein Rechtsgutachten eines islamischen Rechtsgelehrten, das in Bezug auf ein bestimmtes Problem ein nicht bindendes Gutachten auf Grundlage der Quellen der Scharia darstellt.

Und auch die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt in ihrem “Kleinen Islam-Lexikon”:

Fatwa, arabisch für Rechtsgutachten, in dem der Mufti ein bestimmtes Problem unter Berücksichtigung des islamischen Rechts beantwortet. Das Gewicht eines derartigen Gutachtens beruht grundsätzlich auf der persönlichen Autorität seines Ausstellers. Die vertretene Rechtsauffassung ist deshalb im Unterschied zu einem Gerichtsurteil nur für denjenigen bindend, der diese Autorität anerkennt.

Im sunnitischen Islam ist es beispielsweise möglich, dass jemand eine Fatwa einholt und, sollte er damit nicht zufrieden sein, den nächsten Mufti konsultiert. Die Unterscheidung zwischen der Bedeutung von Fatwas im sunnitischem beziehungsweise im schiitischem Islam fehlt bei “Bild” gänzlich. Sie ist auch keine Marginalie. Es gibt mehrere Länder, in denen der sunnitische Islam Staatsreligion ist; außerdem gehören die in Deutschland lebenden Muslime mehrheitlich dem sunnitischen Islam an.

Es gibt Fatwas zum Thema Beten, Fatwas zum Fasten, Fatwas zum Rauchen, Fatwas zu ganz alltäglichen Fragestellungen, aber eben auch Tötungsaufrufe wie im Fall von Salman Rushdie. Dazu schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung:

Der Tötungsaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wurde vom damaligen Ayatollah Khomeini in Form einer Fatwa erlassen. Die große Beachtung, die dieser Aufruf fand, rührte daher, dass Khomeini zu Lebzeiten eine hohe Stellung im schiitischen Islam einnahm.

Das kommt durch die Autorität Khomeinis im Iran sicherlich schon an eine gesetzesähnliche Bedeutung heran. Aber das gilt eben nicht, wie “Bild” es darstellt, für alle Fatwas überall. So kann es verschiedene Fatwas zur selben Frage geben, die sich inhaltlich widersprechen. Wären diese dann “zwingende Rechtsverordnungen, die in islamischen Ländern wie Gesetze gelten”, wäre das bei der praktischen Umsetzung ausgesprochen schwierig.

Gesehen bei @abususu.

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Gibt es bei “Bild” einen Zwang, in der Mittagspause Weißwurst zu essen?

Nein, gibt es nicht. Aber fragen kann man ja mal, auch wenn man es eigentlich besser weiß. So, wie hier:

Screenshot Bild.de - Live im Fernsehgarten - Deutet Andrea Kiewel hier Genderzwang im ZDF an?

… titelte die “Bild”-Redaktion gestern groß auf der Bild.de-Startseite. Zuvor sprach Moderatorin Andrea Kiewel im ZDF-“Fernsehgarten” von “Singer-Songwriter*innen”, also mit Gender-Pause. Und sagte anschließend mit Blick ins Publikum: “Nicht das Gesicht verziehen. Ich muss.”

Da war natürlich was los in den Sozialen Netzwerken: Schreibt das ZDF etwa das Gendern vor? Und auch Bild.de fragte auf der Startseite empört mit. Dabei weiß die Redaktion zu diesem Zeitpunkt schon längst, dass es einen derartigen “GENDERZWANG” nicht gibt – es steht eindeutig im dazugehörigen Artikel:

BILD fragte nach. Das ZDF dementierte: “Es gibt keine Anweisung zum Gendern im ‘ZDF-Fernsehgarten’. Andrea Kiewel ist es ein persönliches Anliegen, alle anzusprechen, daher verwendete Sie die Formulierung ‘Singer- und Songwriter*innen’ im Zusammenhang mit ‘muss’.”

Gegenüber BILD stellte Kiewel am Sonntag klar: “Niemand, nicht das ZDF und sonst auch niemand, sagt mir, dass ich gendern muss. Ich benutze den männlichen und weiblichen Plural schon seit langer Zeit, weil ich es unbedingt will und es mir sehr wichtig ist. Es liegt mir am Herzen. Und so meinte ich es auch in der Live-Sendung. Kann schon mal vorkommen, dass in einer zweistündigen Live-Sendung nicht jedes Wort maßgeschneidert passt. Aber es ist so. Ich will es. Ich muss es nicht.”

Kiewel trotzig: “Alles, was ich sage oder schreibe, mache ich aus tiefster Überzeugung. So bin ich. Eine Frau, der das -innen am Herzen liegt. Aber auch wichtig: Jeder soll es so machen, wie er oder sie es für richtig hält.”

Aber fragen (und auf der Wutwelle mitsurfen und so Klicks einsammeln) kann man ja mal.

Auf der Titelseite der heutigen “Bild”-Zeitung versucht die Redaktion übrigens noch einmal, möglichst zweideutig zu berichten:

Ausriss Bild-Titelseite - Andrea Kiewel über ihre Gender-Sprache im Fernsehgarten - Ich muss

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“Freiheit für die Ukraine”, Trikotverkäufe für “Bild”

“Der Ball rollt, der Rubel rollt – aber jetzt rollen auch die Panzer”, schreibt “Bild”-Sportchef Walter M. Straten heute und meint damit die Sponsoringtätigkeiten des staatlich kontrollierten, russischen Erdgaskonzerns Gazprom im Fußballgeschäft. Unerträglich sei das, so Straten: “Wir müssen im TV zur Champions-League-Hymne die Werbung von Gazprom sehen, während Putins Truppen in die Ukraine einmarschieren.”

Und da ist ja nicht nur die Champions-League-Hymne. Seit vielen Jahren ist Gazprom auch Trikotsponsor des FC Schalke 04. Walter M. Straten: “Wir werden die Schalker in ihren Gazprom-Trikots erleben, so als wäre der Konzern ein ganz normaler Werbepartner seit 2007 – und nicht ein Finanzier der russischen Staatsmacht. Damit auch des Krieges.” “Bild” fordert daher:

 Kein Schalker Trikot mit dem Gazprom-Schriftzug. Klebt ihn einfach ab. Das wäre ein starkes Symbol.

Während der FC Schalke 04 und der Fußballverband Uefa laut Straten aber jetzt schon versuchen, sich mit “verlogenen”, “pflaumenweichen Erklärungen herauszuwinden”, macht “Bild” bei der ganzen Sache nicht mehr mit:

BILD macht bis auf Weiteres Schluss mit Putins Trikot-Werbung!

Wir überkleben das Logo in der Zeitung und im Internet mit der Forderung: Freiheit für die Ukraine!

Das verkündet die Redaktion heute öffentlichkeitswirksam in der Zeitung:

Ausriss Bild-Zeitung - Russland-Einmarsch in der Ukraine - Bild macht Schluss mit Putns Werbung

Und online bei Bild.de:

Screenshot Bild.de - Bild macht Schluss mit Putns Werbung

Das ist konsequent. Geht es hingegen ums Geldverdienen, ist “Bild” nicht so konsequent.

Im auf der Bild.de-Startseite verlinkten, Springer-eigenen “BILD SHOP” kann man zwischen “Volks-Akku” und Blumenzwiebeln auch Fußballtrikots kaufen. Unter anderem diese hier:

Screenshot Bild-Shop - Es ist ein Angebot für ein Schalke-Trikot mit dem Trikotsponsor Gazprom zu sehen

In seinem flammenden Appell schreibt Walter M. Straten: “Wenn Putin das Nachbarland überfällt und ihm jedes Existenzrecht abspricht, ist jede Grenze überschritten! Der Fußball kann nicht ungerührt weiter kassieren, solange Putin Krieg führt.” Der Springer-Verlag offenbar schon.

Mit Dank an Christian für den Hinweis!

Nachtrag, 12:10 Uhr: Der Springer-Verlag hat die Schalke-Trikots mit der Gazprom-Werbung nun aus dem Shop genommen.

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Bis zu 100 Prozent einer “Bild”-Überschrift sind falsch

Manchmal reichen der “Bild”-Redaktion ein besonderer Fokus und zwei kleine Wörter, um die Leserschaft in die gewünschte Richtung zu lenken.

Am späten Montagabend stand ganz oben auf der Bild.de-Startseite:

Screenshot Bild.de - Bild-Umfrage bei den Gesundheitsministerien zeigt - Bis zu 29 Prozent der Corona-Toten starben nicht an Corona

Sowie am Tag darauf auf der “Bild”-Titelseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Viele Corona-Tote starben nicht an Corona! Bis zu 29 Prozent! Sie wurden als Corona-Tote gezählt, aber das Virus war nicht Todesursache - Wie die Bürokratie das Vertrauen der Bürger verspielt

Und in den Sozialen Medien:

Screenshot des Facebook-Posts der Bild-Redaktion
Screenshot des Tweets der Bild-Redaktion

Es geht um die zwei Wörter “Bis zu”. Die hat die “Bild”-Redaktion klug gewählt, klug im Sinne von: manipulativ. Schaut man sich nämlich den dazugehörigen Artikel an – wofür man allerdings entweder die “Bild”-Zeitung kaufen oder ein “Bild-plus”-Abo besitzen muss -, sieht man recht schnell: Mit den 29 Prozent hat “Bild” sich einen extremen Ausreißer rausgesucht. Autor Filipp Piatov listet in seinem Beitrag die Werte aus acht Bundesländern auf: In Baden-Württemberg sind laut dortigem Gesundheitsministerium 6 Prozent der als “Corona-Tote” gemeldeten Personen nicht am, sondern mit dem Coronavirus gestorben, in Bayern 11 Prozent, in Hessen 7 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 9 Prozent, in Niedersachsen 10 Prozent, in Rheinland-Pfalz 17 Prozent, im Saarland 10 Prozent und in Sachsen-Anhalt 29 Prozent.

Ausriss Bild-Zeitung - Tabelle mit den oben genannten Werten

Für “Bild” ist der Fokus klar: “Bis zu 29 Prozent”.

Hätte die Redaktion stattdessen plump den Durchschnitt der acht Bundesländer errechnet, hätte sie nur 12,4 Prozent vermelden können. Hätte sie den Durchschnitt anhand der Anzahl der gemeldeten Corona-Toten gewichtet, wären es 14,2 Prozent gewesen.

Das sind nicht so wahnsinnig überraschende Werte. Bereits im April 2021 berichtete “Quarks” beispielsweise:

Die Deutsche Gesellschaft für Pathologie hat im Jahr 2020 Untersuchungen an 154 Verstorbenen durchgeführt, die zuvor an Covid-19 erkrankt waren. Das Ergebnis: 86 Prozent dieser Todesfälle waren wesentlich oder alleinig auf die direkten Folgen der Infektion zurückzuführen (…)

Die Todesursachenstatistik des Bundesamtes für Statistik bestätigt diesen Befund: Bei den Corona-Todesfällen für das Jahr 2020 wurde bei 83 Prozent der Fälle Corona als hauptsächliche Ursache angegeben. Bei den restlichen 17 Prozent habe Corona demnach als “Begleiterkrankung zum Tod beigetragen”.

(Um die Debatte, ob die Unterscheidung zwischen an und mit Corona verstorben sinnvoll ist, oder den Gedanken, dass niemand an einem Virus stirbt, sondern an den körperlichen Folgen, soll es hier erstmal nicht weiter gehen.)

Das liegt in etwa in dem Bereich der von uns errechneten Durchschnittswerte. Piatov nennt sie nirgendwo in seinem Artikel.

Stattdessen haben er und seine Redaktion sich den Extremwert aus Sachsen-Anhalt rausgepickt. Nicht ohne Wirkung: Bei Facebook und Twitter ist der Ärger der “Bild”-Leserinnen und -Leser gewaltig. In etwa 2.000 Kommentaren wettern sie gegen die Regierung: “Die Politik und Ministerien sind mit dem fälschen von Zahlen schmerzfrei.” Und fragen: “Wann rollen eigentlich mal Köpfe?” Aufgrund der Paywall bei Bild.de dürften viele der Kommentatoren nur die 29 Prozent mitbekommen haben.

Und es gibt noch ein Problem: Die 29 Prozent stimmen gar nicht.

Wir haben am Dienstag beim sachsen-anhaltischen Gesundheitsministerium nachgefragt, ob die in “Bild” angegeben 29 Prozent korrekt sind. Wir hatten Zweifel, weil es sich um einen so deutlichen Ausreißer handelt. Und weil wir uns gewundert hatten, dass es in einem Bundesland mit etwa 2,2 Millionen Einwohnern im selben Zeitraum mehr Corona-Tote gegeben haben soll (laut “Bild”-Artikel 1.455) als in Baden-Württemberg (laut “Bild”-Tabelle 1.236 Corona-Tote), wo es mehr als fünfmal so viele Einwohner gibt.

Der Fehler liegt in diesem Fall allerdings nicht bei “Bild”, sondern beim Gesundheitsministerium. Ein Mitarbeiter antwortete uns:

Die von uns gemachten Angaben basieren auf einer falschen Grundannahme. Der Fehler liegt tatsächlich bei uns.

Richtig ist: Seit Dezemberbeginn 2021 sind bis heute 590 Corona-Todesfälle in Sachsen-Anhalt zu verzeichnen. Davon sind 446 an Corona verstorben, 117 mit Corona.

Es sind also nicht 29 Prozent, sondern 19,8. Dadurch ändert sich der einfache Mittelwert auf 11,3 Prozent und der gewichtete auf 10,6.

In der “Bild”-Zeitung ist dazu eine Art Korrektur erschienen, nicht groß auf der Titelseite, sondern klein in der Ecke auf Seite 2:

Ausriss Bild-Zeitung - Corona - Ministerium korrigiert Todeszahlen

Bei Bild.de wurde die Überschrift des Artikels geändert …

Screenshot Bild.de -

… und am Ende des Textes eine “Aktualisierung” hinzugefügt:

Aktualisierung: In der ersten Fassung des Artikels berichtete BILD, dass in Sachsen-Anhalt 29% aller Verstorbenen, die seit dem 1. Dezember 2021 als Corona-Tote gemeldet wurden, nicht an Corona verstorben waren. Dies beruhte auf Angaben aus dem Gesundheitministerium Sachsen-Anhalt. Nach der Veröffentlichung des BILD-Berichts erklärte die Behörde gegenüber BILD: “Die von uns gemachten Angaben basieren auf einer falschen Grundannahme. Der Fehler liegt bei uns.” Richtig sei: “Seit Dezemberbeginn 2021 sind bis heute 590 Corona-Todesfälle in Sachsen-Anhalt zu verzeichnen. Davon sind 446 an Corona verstorben, 117 mit Corona.” BILD hat den Bericht daraufhin aktualisiert.

Der Tweet und der Facebook-Post mit den falschen 29 Prozent sowie die ganzen wütenden Kommentare der Leserschaft dazu sind unverändert online.

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*Namen von der Redaktion genannt

An Silvester gab es auf dem Mailänder Domplatz mehrere Angriffe auf Frauen, die italienische Polizei ermittelt wegen sexueller Nötigung, elf Anzeigen gibt es bisher. Unter den Opfern sind auch zwei Frauen aus Deutschland.

Vergangenen Dienstag berichtete die “Süddeutsche Zeitung” online über sie (nur mit Abo lesbar). Die zwei Studentinnen sprechen in dem Artikel über die Silvesternacht:

“Überall waren Hände”, sagt die eine. “Ich habe versucht, einem von denen ins Gesicht zu schlagen, der hat einfach nur gelacht”, sagt die andere. Die Freundinnen sind beide zwanzig Jahre alt, Studentinnen aus Mannheim, sie waren an Silvester nach Mailand gefahren. Zum Feiern. Sie standen auf der Piazza del Duomo, es gab Musik, Feuerwerk und trotz Pandemie doch recht viele Menschen. Dann wurden sie plötzlich aus einer Gruppe heraus angegriffen. Zehn Tage später erzählen die beiden Frauen gemeinsam im Video-Telefonat mit der Süddeutschen Zeitung davon. Ihre Namen möchten sie nicht in der Zeitung lesen.

Später am selben Tag berichtete auch Bild.de:

Screenshot Bild.de - Übergriffe in Mailand erinnern an Horror-Nacht von Köln - Silvester-Mob attackiert deutsche Studentinnen
(Zu sehen ist eine Szene des Angriffs. Unkenntlichmachung der Gesichter der Frauen durch Bild.de, weitere Unkenntlichmachung durch uns.)

In der aktuellen Version des Textes steht unter anderem:

Die beiden Studentinnen Monika E.* und Sabine G.* (*Namen von der Redaktion geändert) kommen aus Mannheim, berichten in der “Süddeutschen Zeitung” und in italienischen Medien, was ihnen mitten in Mailand passierte

Es stimmt, dass Bild.de die Namen der beiden Frauen geändert hat – allerdings erst, nachdem diese sich bei der Redaktion beschwert hatten. Sie mussten sich gegen die “Bild”-Berichterstattung wehren: In der Ursprungsversion des Artikels standen ihre tatsächlichen Namen (jeweils kompletter Vor- und abgekürzter Nachname). Genauso im großen Artikel, der am vergangenen Mittwoch in der gedruckten “Bild” erschienen ist:

Ausriss Bild-Zeitung - Übergriffe in Mailand erinnern an Horror-Nacht von Köln - Silvester-Mob attackiert deutsche Studentinnen
(Unekenntlichmachungen: siehe oben)

Das E-Paper mit den Namen der zwei Frauen ist bis heute unverändert online.

Ganz am Ende ihres Artikels schreibt die “Bild”-Autorin:

“Die beiden Frauen aus Deutschland sind noch immer völlig aufgelöst, mit den Nerven am Ende”, so ein Ermittler zu BILD.

Und in so einer Situation müssen sie sich auch noch darum kümmern, dass eine Boulevardredaktion ihrer Bitte nachkommt, nicht namentlich genannt zu werden.

“Bild” wird leider verfälschen, verfälschen, verfälschen

Ende vergangener Woche konnte die “Bild”-Redaktion einen alten Bekannten präsentieren, ein “Schreckgespenst”, immer gut für große Aufregung und Blutdruckerhöhung bei den Leserinnen und Lesern:

Er war DAS Schreckgespenst der Griechenland-Krise, Frauenschwarm (polierte Glatze, muskulös, enge Hemden, dickes Motorrad) und Finanzminister der radikal-linken Syriza-Regierung auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise im Jahr 2015.

Gemeint ist: Yanis Varoufakis. Und der jagt den deutschen Steuerzahlern laut “Bild” gleich wieder einen Riesenschreck ein:

Screenshot Bild.de - Schock-Aussage von Ex-Minister Varoufakis kurz vor Merkel-Besuch in Athen - Die Deutschen werden leider zahlen, zahlen, zahlen

Buh!

Dieses Zitat, das Bild.de am Donnerstagabend auf der Startseite veröffentlichte, und die “Bild”-Zeitung in leicht abgeänderter Form …

Ausriss Bild-Zeitung - Griechenlands Ex-Finanzminister Varoufakis - Deutsche Arbeiter werden zahlen und zahlen und zahlen

… am Freitag im Blatt druckte, steht höchstens noch im losen Zusammenhang mit dem, was Varoufakis tatsächlich gesagt hat. Die linke Bewegung DiEM25, deren Gründer Varoufakis ist, hat auf ihrer Website die drei Fragen, die “Bild” geschickt hatte, und Varoufakis’ Antworten darauf in voller Länge veröffentlicht. Dort liest sich das alles etwas anders:

BILD: Will we ever get our money back?

Yanis Varoufakis: If you are one of the German or Greek oligarchs who benefitted immensely from the Greek state’s bailout, you have already received gargantuan returns – and you will receive even more in the future. Alas, if you a German or a Greek worker or middleclass person, you will be paying, and paying and paying…

(Hervorhebungen im Original, hier auch als deutsche Übersetzung lesbar.)

Anders als die “Bild”-Redaktion es darstellt, geht es Yanis Varoufakis offensichtlich nicht um einen vermeintlichen Konflikt zwischen den zahlenden Deutschen und den kassierenden Griechen, sondern, plakativ gesagt, um Oben gegen Unten – die deutschen oder griechischen Oligarchen, die Profiteure, auf der einen Seite und die deutschen oder griechischen Arbeiter und Mitglieder der Mittelschicht, die Zahlenden, auf der anderen.

Die Griechen, die laut Varoufakis ebenfalls “zahlen und zahlen und zahlen” werden, hat “Bild” einfach rausgestrichen. Das wörtliche Zitat, wie es auf der Bild.de-Startseite erschienen ist, ist eine Erfindung der “Bild”-Redaktion.

Im Text zitieren Peter Tiede und Liana Spyropoulou zwar etwas originalgetreuer, aber auch dort fehlten die zahlenden Griechen gänzlich:

Und heute?

Rechnet er knallhart ab und prophezeit den “deutschen Arbeitern und Mittelständlern” gegenüber BILD in Athen: “Sie werden leider zahlen und zahlen und zahlen …”

Profiteure der Krise: “Deutsche oder griechische Oligarche”, die laut Varoufakis “immens vom Rettungspaket des griechischen Staates profitiert haben” – und in Zukunft noch weiter profitieren werden.

Wir haben bei “Bild” nachgefragt, warum das Varoufakis-Zitat derart verfälscht wiedergegeben wird. Ein Sprecher antwortete uns:

Wir haben bei BILD nicht das vollständige Wortlautinterview mit Herrn Varoufakis veröffentlicht, sondern aus diesem insbesondere seine konkrete Antwort auf die Frage, ob wir (Deutsche) unser Geld wiederbekommen werden, in den Mittelpunkt des Beitrages gestellt.

Dabei wurde in der ursprünglichen Fassung des Artikels ein Zitat von Herrn Varoufakis nicht vollständig wiedergegeben. Er sprach nicht nur von deutschen Arbeitern und Mittelschichtlern, die “leider zahlen und zahlen und zahlen”, sondern von deutschen und griechischen. Wir haben dies inzwischen für unsere Leser transparent präzisiert.

Inzwischen befindet sich unter dem Bild.de-Artikel eine entsprechende “Anmerkung der Redaktion”. Die Überschrift lautet nun nicht mehr “‘Die Deutschen werden leider zahlen und zahlen und zahlen …'”, sondern “Deutsche Arbeiter werden ‘leider zahlen und zahlen und zahlen …'”. Und im Text steht jetzt:

Und heute?

Rechnet er knallhart ab und prophezeit: “Wenn Sie ein deutscher oder griechischer Arbeiter oder Mittelschichtler sind, werden Sie leider zahlen und zahlen und zahlen …”

Dass die “Bild”-Redaktion reagiert und transparent korrigiert, ist gut, dürfte aber herzlich wenig bringen. Zahlreiche Medien haben das falsche Varoufakis-Zitat längst abgeschrieben: n-tv.de, “Focus Online”, Merkur.de, das Mitglieder-Magazin der AfD, das Rechtsaußen-Verschwörungsblatt “Compact”. Und auch in den Sozialen Medien wurde der Bild.de-Artikel mit der falschen Überschrift kräftig rumgereicht, unter anderem vom Werteunion-Vorsitzenden Max Otte, von AfD-Politiker Stefan Wirtz und in der Facebook-Gruppe “Dr Hans-Georg Maaßen für Kanzler”.


Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

In unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” schreiben wir in einem Kapitel über die Feindbilder, die “Bild” seit Jahrzehnten kreiert und bedient – von den 68er-Studenten über die Wölfe bis zu den Geflüchteten. Und es geht auch um die Griechen und deren früheren Finanzminister Yanis Varoufakis. Hier ein Auszug:

“EURE neue griechische Regierung ist dreist, unverschämt und tritt auf wie eine Horde von ungehobelten und manierlosen Pennern. Dieses Pack repräsentiert Griechenland, weil die Mehrheit Eures Volkes diese Leute gewählt hat !” So beginnt ein Brief, der im März 2015 ohne Absender, aber ordentlich frankiert mit 62 Cent, im Briefkasten eines griechischen Restaurants in Düsseldorf landet:

In der Sonne liegen ist doch viel bequemer, insbesondere wenn andere dafür aufkommen … So geht es nicht !! Wir werden, solange diese Regierung derart schäbig, insbesondere fleißige und sparsame Europäer und Deutsche verunglimpft und beleidigt, ganz sicher keine griechischen Waren mehr kaufen, sondern auch Euren Laden ab sofort nicht mehr betreten !! Verkauft doch Eure Waren besser nicht mehr an die “Scheißdeutschen”, sondern macht Euch auf zurück in Euer korruptes, stinkendfaules und total unfähiges Drecksgriechenland

Und als letzten, fett gedruckten Satz: “Griechenland NEIN DANKE !!!!!!!!!”

Als sie den Brief gelesen habe, sei sie geschockt und verängstigt gewesen, erzählt die Restaurantbetreiberin später “Spiegel Online”: Sie habe sich gefragt, was als Nächstes komme. Stehe bald jemand vor der Tür und bedrohe sie, wenn sie abends das Lokal verlasse?

In seinem Brief greift der anonyme Verfasser jene Vorwürfe auf, die von den “Bild”-Medien in den Wochen zuvor nahezu täglich wiederholt wurden. Am 26. Februar 2015 etwa druckt “Bild” das Wort “NEIN” – quer über die gesamte Breite der Seite 2 der Bundesausgabe.1 Darunter die Forderung oder vielmehr der Befehl: “Keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen!” In einem Kommentar daneben schreibt Julian Reichelt, seinerzeit Chef von Bild.de, zu der Verlängerung der Finanzhilfen für Griechenland:

Was am Freitag im Deutschen Bundestag geschehen wird, mag man eigentlich keinem vernünftigen Menschen mehr erklären. Zusammengefasst: Wir überweisen weiter Milliarden nach Griechenland dafür, dass man uns ALLE bisher gebrochenen Versprechen (z. B. Kampf gegen Korruption und Steuerhinterziehung) NOCH MAL verspricht.

Wir kaufen Griechenland also im wahrsten Sinne des Wortes seine alten Reformlügen mit neuem Geld ab. Und das, obwohl inzwischen JEDER weiß, dass wir unser Geld niemals wiedersehen werden.

Sind wenigstens die griechischen Politiker, die uns ihr Versprechen geben, glaubwürdiger als ihre Vorgänger?

NEIN!

Dazu startet “Bild” eine “große Mitmach-Aktion”: Man solle die “NEIN”-Seite hochhalten, ein Selfie damit machen und an die Redaktion schicken. So könne und solle man zeigen, dass man “auch gegen weitere Milliarden-Hilfen für die Griechen” sei.

Solche Lesermobilisierungsaktionen setzt die “Bild”-Zeitung schon seit ihren frühen Jahren immer wieder ein, vor allem gegen ihre Gegner. “Durch Appelle an die Lesermeinung fordert die Redaktion politische Willensbekundungen ihrer Leser heraus, die – obwohl demokratisch verbrämt – bisweilen undemokratische Formen annehmen”, schreibt Peter Jordan 1970. So startet “Bild” etwa nach dem Mauerbau 1961 eine Leserbrief-Aktion gegen jene westdeutschen Theaterintendanten, die weiterhin Stücke des bekennenden Marxisten Bertolt Brecht spielten (“Millionen verfluchen diesen Mann”2). “Diese zur Volksabstimmung erhobene Aktion” sei “in wüste Beschimpfungen” ausgeartet, schreibt Jordan. “Bild” sei eben sehr bemüht gewesen, “die ohnehin bewegte deutsche Öffentlichkeit weiter aufzustacheln”.3

Um die bewegte deutsche Öffentlichkeit des Jahres 2015 aufzustacheln, beginnt “Bild” im Frühjahr damit, die Griechen – die währenddessen durch die Sparvorgaben massenhaft in die Armut getrieben werden – als “Raffke-Griechen” und “Griechen-Raffkes” zu bezeichnen. Damit wird der von “Bild” in den Jahren zuvor eifrig verwendete Begriff der “Pleite-Griechen” abgelöst, denn jetzt haben sie ja Geld: “unser Geld”! Die neu gewählte griechische Regierung nennt “Bild” “Radikalos-Regierung” oder “Griechos Radikalos”, aus Finanzminister Varoufakis machen sie wahlweise Finanzminister “Varoutricksis”, den “Krawall-Griechen” oder “Griechenlands Radikalo-Naked-Bike-Rider”. (Ein “Naked Bike” ist einfach ein Motorrad ohne Verkleidung, für “Bild” weckt es aber offenbar aufregend-düstere Assoziationen.) Der damalige Politik-Chef Béla Anda etwa schreibt in seinem “Politik-Briefng”:

Wie lederbejackte Rüpel-Rocker röhren Griechenlands Neo-Premier und sein Posterboy-Finanzminister seit ihrem mit platten Parolen erzielten Wahlsieg durch Brüssel. Ihr Gesetz ist die Straße. Hier sind sie (politisch) groß geworden. Hier ist ihre Hood. Deren Unterstützung wollen die Kawa-Naked-Biker (zumindest Varoufakis hat eine) nicht verlieren.

Vor allem auf Varoufakis, den neuen, linken Finanzminister, schießen sich die “Bild”-Medien ein. Sie engagieren beispielsweise eine Grafologin, die seine Handschrift untersucht und darin “Pathos und Geltungsbedürfnis” feststellt; die Schrift wirke “selbstgefällig” und gehe merkwürdigerweise im “Schlusszug wieder scharf nach links”, das wirke, “als würde er sich selbst wieder durchstreichen, als würde er unbewusst das zuerst Gesagte wieder zurücknehmen”.

Wenig später ist “Bild” maßgeblich an einer bizarren Mittelfinger-Diskussion beteiligt, die sich tagelang hinzieht und weltweit für verwundertes Kopfschütteln sorgt. Im Kern geht es um ein Video, in dem Varoufakis, wie “Bild” entrüstet schreibt, “uns den Mittelfinger” zeige. Tatsächlich muss man die Geste im Kontext sehen: Das Video ist mehrere Jahre alt, Varoufakis zu dieser Zeit noch gar kein Minister und die Geste zur Illustration eines hypothetischen Szenarios gedacht, in dem Varoufakis den deutschen Banken den Finger gezeigt hätte. Eine ebenso komplizierte wie belanglose Geschichte, die in den “Bild”-Medien auf die Nachricht reduziert wird, Varoufakis habe den Mittelfinger “gen Deutschland” gereckt:

Keine Krawatte, der Kragen seines Sakkos hochgestellt, Hände in den Hosentaschen: So zeigen die meisten Fotos Yanis Varoufakis. […] Mit einer drastischen Geste – dem gestreckten Mittelfinger – zeigte er in der Vergangenheit auf Deutschland!

Die Diffamierungskampagne – die bis heute immer mal wieder aufflammt – beschränkt sich aber nicht bloß auf die Politiker Griechenlands, sondern trifft immer wieder auch die Griechen als gesamtes Volk. Seit Beginn der “Pleite-Griechen”-Berichterstattung werden “Bild”-Attacken häufig so formuliert, dass sie sich auf alle Griechen beziehen: “So verbrennen die Griechen die schönen Euros!”4 “Wer soll den Griechen noch glauben?” “Keine Gnade mit den Griechen!” Michalis Pantelouris, Journalist und Sohn eines Griechen, schreibt schon 2010:

Es wird das Bild gemalt von einer Nation, die in fauler Gier anstatt zu arbeiten lieber die EU ausgenommen hat und jetzt überversorgt und fett am Strand liegt, während in Deutschland hart gearbeitet wird, um ihnen das Geld hinterher zu werfen. Natürlich braucht man keinen Nobelpreis, um zu erkennen, dass es so nicht stimmt. Man braucht gerade mal ein Gehirn.

Aber auch: ein Mindestmaß an Informationen, um sich ein realistisches Bild machen zu können. Doch wie bei den Studenten der 68er, den Wölfen und anderen Feinden ersetzt “Bild” bei den Griechen Fakten durch Gefühle. In einer Untersuchung der Griechenland-Berichterstattung deutscher Medien kommt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung 2016 zu dem Ergebnis:

“Bild” berichtete in 81,6 Prozent der Artikel und damit am stärksten negativ über die griechische Regierung, setzte am intensivsten auf Negativismus, war im geringsten Umfang ausgleichend zwischen verschiedenen Positionen, setzte gezielt Akteure mit negativen Positionen gegenüber der Regierung Griechenlands als Zitatgeber ein und stimmte dann in Artikeln am stärksten mit diesen überein. Die Reformagenda wurde zudem bei der Boulevardzeitung “Bild” im geringsten Umfang thematisiert. Es wurde sich nur auf sehr wenige Reformziele konzentriert, wie z. B. die Einführung einer Großvermögenssteuer, die Reform des Rentensystems oder eine Mehrwertsteuerreform. 73 spezifische Reformen wurden hingegen komplett ausgelassen, soviel wie bei keinem anderen Medium.

Ende Februar 2015 ist die Berichterstattung auch im Bundestag ein Thema. Axel Schäfer, damals stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, hält die (von ihm durchgestrichene) “NEIN”-Seite aus der “Bild”-Zeitung zu Beginn seiner Rede hoch und sagt unter Applaus:

Wir sind hier sicherlich in einer Reihe von Punkten unterschiedlicher Auffassung. Das ist auch gut so, dass wir das diskutieren. Aber in einem Punkt sollten wir uns hier alle […] einig sein: Wir unterstützen keine Kampagnen gegen andere Länder. Wir unterstützen das nicht!

“Die ‘Bild’ spricht von den gierigen Griechen”, fügt er später in einem Interview hinzu, “aber wir beleidigen niemals ein Land. Wir gegen die – das gibt es nur im Fußball …”

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Das Bild, das “Bild” abgibt

Angesprochen auf den äußeren Schaden, der durch die Affäre um Ex-“Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt entstanden ist, sagt der neue “Bild”-Chef Johannes Boie im Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” (nur mit Abo lesbar):

Ich denke, dass der Schaden nach außen vorhanden ist, aber an manchen Stellen auch gezielt größer gemacht wird, als er tatsächlich ist.

Eine grundsätzlichere Frage wäre: Was ist überhaupt noch an (positivem) “Bild”-Image vorhanden, das – auf welche Weise auch immer – beschädigt werden kann? Es gibt mehrere Studien und Umfragen, die darauf Antworten geben.

Das Reuters Institute for the Study of Journalism der Universität Oxford zum Beispiel hat in seinem “Digital News Report 2021” auch für Deutschland “Brand trust scores” erfragt, also: Wie sehr vertrauen die Befragten dem jeweiligen Medium? Das Ergebnis:

“Bild” landet unter den abgefragten Medien mit weitem Abstand auf dem letzten Platz. 60 Prozent der befragten Personen sagen, dass sie “Bild” nicht vertrauen. (Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Universität Mainz. “Wie vertrauenswürdig finden Sie diese Angebote?”, fragten die Forscherinnen und Forscher 2020, wobei sie dabei nicht konkrete Medienmarken nannten, sondern Gattungen. Darunter auch “Boulevard-Zeitungen”, deren wichtigster Vertreter nach wie vor “Bild” ist. Sie landeten ganz hinten (7 Prozent “sehr/eher vertrauenswürdig”, 56 Prozent “überhaupt/eher nicht vertrauenswürdig”).)

Einen etwas anderes Fokus haben die Initiative Reset. und die Agentur pollytix in ihrer Studie zur Debattenkultur (PDF) gesetzt. Sie fragten im Juni 2021 in einer bundesweiten repräsentativen Umfrage:

Glauben Sie, die folgenden haben einen eher positiven oder eher negativen Einfluss auf die Art und Weise, wie Diskussionen in Deutschland geführt werden?

Das Ergebnis:

Auch hier landet “Bild” auf dem letzten Platz, mit dem niedrigsten Wert bei “eher positiv” und dem höchsten bei “eher negativ”.

Der “GemeinwohlAtlas” der Leipziger Graduate School of Management und der Universität St. Gallen will den “gesellschaftlichen Nutzen” von deutschen sowie internationalen Unternehmen, Marken, Organisationen und Institutionen untersuchen und abbilden:

Im Jahr 2019 nahmen insgesamt 11.769 Personen im Alter zwischen 18 und 93 Jahren an der Befragung teil.

Kannten die Befragten mindestens eine der aufgelisteten Organisationen, wurden sie aufgefordert, für einzelne, randomisiert ausgewählte Organisationen den Beitrag zum Gemeinwohl in den vier Dimensionen Lebensqualität, Aufgabenerfüllung, Zusammenhalt und Moral zu bewerten.

Hier landet “Bild” nicht auf dem letzten, sondern auf dem drittletzten Platz – Rang 133 von 135. Schlechter bewertet wurden nur die FIFA und Marlboro:

Und wie sieht die “Bild”-Belegschaft das selbst? Nach dem Compliance-Verfahren gegen Julian Reichelt im Frühjahr hat der Springer-Verlag eine Befragung unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von “Bild”, “Bild am Sonntag” und “B.Z.” durchgeführt. Sie konnten 51 vorgegebene Aussagen bewerten, auf einer Skala von 0 bis 10, von wenig bis hoher Zustimmung.

Der “Spiegel” berichtete Anfang Juni über die Ergebnisse (nur mit Abo lesbar). Und über die interne Präsentation durch “Bild”-Geschäftsführerin Carolin Hulshoff Pol:

Sie tritt an diesem Montagnachmittag demütig auf. Bei einem Wert, sagt sie, habe sie sich “echt erschrocken”. Er betrifft den Blick, den die Mitarbeiter auf die Außenwirkung ihrer Blätter haben, auf den Wert für die demokratische Öffentlichkeit. Abgefragt worden war: Werden “Bild”, “BamS” und “BZ” ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht? Die Belegschaft vergab dafür den Wert 5,5. “Das darf nicht unser Anspruch sein”, sagt Hulshoff Pol.

Das “Bild”-Image scheint auch aus Sicht der dort arbeitenden Menschen so ramponiert zu sein, dass nicht wenige nur ungern erzählen, wo sie arbeiten:

Und noch eine Zahl: 225 Befragte, also ein Viertel, erzählen nach außen ungern, dass sie bei “Bild” arbeiten. Eine Redaktion, die sich zumindest in Teilen für den eigenen Arbeitgeber schämt.

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