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“Bild” weiß sogar noch weniger und schreit: Alarm in “unserem Freibad”

Vor knapp zwei Monaten, am 2. Juli, schrieb die “Bild”-Zeitung auf ihrer Titelseite vom Untergang des Badelandes:

Ausriss Bild-Titelseite - Deutschlands Chef-Bademeister klagt an - Das ist nicht mehr unser Freibad!

Neben dem alarmistischen Ton fiel vor allem auf, dass die Redaktion kaum Fakten präsentierte, mit der sie die These von zunehmenden “+++ Schlägereien +++ Pöbeleien +++ Messern” in Deutschlands Freibädern stützten konnte. Auf der kompletten Seite, die “Bild” zu dem Thema veröffentlichte …

Ausriss Bild-Zeitung - Früher war baden gehen irgendwie anders - Freibad-Report Sommer 2019

… gab es vor allem viel Gefühl und vage Angaben (“Doch in diesem Jahr scheint die Stimmung in vielen Freibädern Deutschlands auffällig aggressiv zu sein.” – “‘Gefühlt gibt es immer mehr Polizeieinsätze in den Bädern.'” – “Zahlreiche Badegäste berichten von unangenehmen Erlebnissen”). Das reichte “Bild” bereits, um “Das ist nicht mehr unser Freibad!” von Seite 1 zu schreien. Aber Fakten, die den “gefühlten” Schein belegen?

Wir mussten schon eine Weile suchen, bis wir die einzige Stelle fanden, die etwas darüber hätte sagen können, ob’s denn nun wirklich schlimmer geworden ist in deutschen Freibädern — oder zumindest in einem deutschen Freibad: Sie versteckte sich im Report “Bäuche, Burkinis und nackte Brüste” aus dem “berüchtigten Prinzenbad” in Berlin-Kreuzberg. “Bild”-Reporter Til Biermann hatte das Bad für einen Tag besucht und die Vorkommnisse protokolliert. Und die waren spektakulär unspektakulär (BILDblog berichtete): Der dramatische Höhepunkt im Prinzenbad-Report war das Festhalten eines Mannes, der sich vermutlich ins Bad geschlichen hatte, ohne zu bezahlen.

Aber, immerhin, Biermann nannte eben auch eine Zahl:

Das Prinzenbad in Berlin-Kreuzberg ist wohl das berühmteste Freibad Deutschlands. Auf jeden Fall ist es das berüchtigtste. Immer wieder wird es Schauplatz von Krawallen.

Allein im vergangenen Jahr wurden 122 Straftaten registriert — mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr.

Und diese einzige Zahl, die “Bild” auf einer ganzen Seite liefert und mit der man etwas anfangen könnte, diese Zahl — nun ja:

Ausriss Bild-Zeitung - Gegendarstellung zu Bäuche, Burkinis und nackte Brüste in der Bildzeitung vom 2. Juli 2019 - Sie schreiben über das Prinzenbad in Kreuzberg: Immer wieder wird es Schauplatz von Krawallen. Allein im vergangenen Jahr wurden 122 Straftaten registriert. Dazu stellen wir fest: Die 122 Straftaten wurden unter der Anschrift des Sommerbads Kreuzberg auch in den sieben Monaten erfasst, in denen das Bad nicht geöffnet ist. In der Statistik enthalten sind nicht nur Taten im Bad, sondern auch solche im Nahbereich. Es gab keinen einzigen Krawall. Berlin, den 12. Juli 2019 - Rechtsanwalt Eisenberg für Annette Siering, Vorständin, und Dr. Matthas Oloew, Unternehmenssprecher Berliner Bäder Betriebe, Anstalt des öffentlichen Rechts - Die Berliner Bäder Betriebe haben recht. Die Redaktion

Diese Gegendarstellung musste “Bild” gestern unten auf Seite 3 veröffentlichen. Autor Til Biermann hatte nicht nur über irgendwelche nicht existenten “Krawalle” geschrieben, sondern bei seiner Recherche offenbar auch etwas missverstanden: Wenn bei einer Straftat als Ort das Prinzenbad vermerkt ist, hat die Tat nicht automatisch im Prinzenbad stattgefunden. Wird beispielsweise jemandem auf dem Gehweg vor dem Prinzenbad das Handy geklaut, kann dieser Diebstahl mit “Prinzenbad” verschlagwortet werden, auch wenn es November ist, und im Prinzenbad die Becken leer sind.

Dazu auch:

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

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Rechte Straftaten? Nicht in “Bild”

In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es in Hessen 115 Fälle von Straf- und Gewalttaten im sogenannten Phänomenbereich der politisch motivierten Gewalt – rechts; im Phänomenbereich der politisch motivierten Gewalt – links waren es von Januar bis März 52 Fälle. Das geht aus zwei Antworten des hessischen Innenministeriums (PDF und PDF) auf Kleine Anfragen der SPD-Fraktion hervor.

Vergleicht man die Zahlen zu linken und rechten Straftaten, gab es also mehr als doppelt so viele “Straf- und Gewalttaten mit rassistischem, antisemitischem, rechtsextremistischem und/oder ausländerfeindlichen Hintergrund”. Und was landet in der Frankfurter “Bild”-Ausgabe in der Überschrift?

Ausriss Bild-Zeitung - 52 linke Straftaten bis April in Hessen

Die rechten Straftaten erwähnt die Redaktion nicht mit einem Wort. Die komplette Meldung im Blatt lautet:

2018 gab’s in Hessen 227 Fälle linker Kriminalität, darunter 20 Gewaltdelikte. 2017 waren es noch 183 Fälle (20 Gewalttaten). In den ersten drei Monaten zählt das Innenministerium bereits 52 Fälle, darunter fünf Gewaltdelikte.

In 34 Fällen war Frankfurt der Tatort. Dahinter: Fulda (7) Wiesbaden (2).

30 Tatverdächtige wurden ermittelt, davon waren zehn weiblich. Bei den Gewalttaten handelt es sich überwiegend um Angriffe auf Polizeibeamte bei Demonstrationen.

Der Vollständigkeit halber: 2018 gab’s in Hessen 603 Fälle rechter Kriminalität, darunter 27 Gewaltdelikte. 2017 waren es 602 Fälle (18 Gewalttaten).

Mit Dank an @jnfrhlch für den Hinweis!

Nachtrag, 27. August: Vor rund zwei Wochen hatte die Frankfurter “Bild”-Redaktion doch auch über die rechten Straftaten berichtet — ohne dabei die linken Straftaten zu erwähnen. Das haben wir bei unserer Recherche übersehen, wofür wir um Entschuldigung bitten möchten.

Auch bei Bild.de sind diese Zahlen erschienen. Über dem Artikel steht:

115 POLITISCH MOTIVIERTE TATEN IN DREI MONATEN — Die Liste der Schande

… was nicht so wirklich stimmt, schließlich waren es in den drei Monaten Januar, Februar und März 115 rechte und 52 linke, insgesamt also 167 politisch motivierte Straftaten in Hessen.

Bild.de liefert rechten Hetzern aufgewärmtes abgelaufenes Futter

Manchmal kommt es vor, dass 90 Tage alte Football-Ergebnisse in der gedruckten “Bild” landen, und das ist dann ganz amüsant, aber auch nicht weiter schlimm. Das hier ist hingegen schlimm:

Screenshot Bild.de - Irrer Einbürgerungsplan - Deutscher Pass trotz Scharia-Ehe - Veröffentlichungsdatum: 20. August 2019

Der Artikel zum angeblichen “IRREN EINBÜGERUNGSPLAN” der Bundesregierung von “Bild”-Parlamentskorrespondent Franz Solms-Laubach soll gestern erschienen sein, so steht es bei Bild.de. Genau derselbe Text, Wort für Wort, ist bereits am 6. Mai dieses Jahres in der gedruckten “Bild” und bei Bild.de erschienen. Er war damals schon zumindest irreführend, wie Patrick Gensing beim ARD-“Faktenfinder” erklärt. Heute ist er schlicht falsch.

Solms-Laubach schreibt, dass Justizministerin Katarina Barley (die inzwischen gar nicht mehr Justizministerin ist — der Artikel ist eben völlig veraltet) sich gegen Horst Seehofer und dessen Innenministerium durchgesetzt habe:

Ein Leben mit zwei oder drei Ehefrauen? Für die Bundesregierung soll das kein Hindernis sein, Ausländern die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen. Und das, obwohl die Vielehe in Deutschland eigentlich strafbar ist!

Unfassbar: Das Bundesinnenministerium (BMI) konnte sich mit dem Plan, Ausländern in Mehrehe die Einbürgerung in Deutschland zu versagen, NICHT gegen das Bundesjustizministerium (BMJV) durchsetzen!

Tatsächlich sollte eine Mehrehe laut Bundesregierung durchaus ein “Hindernis sein, Ausländern die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen.” Man habe in dem Gesetzentwurf, um den es geht, allerdings andere Aspekte, die im Koalitionsvertrag vereinbart waren, vorgezogen und den zur Mehrehe zurückgestellt, erklärte das Bundesjustizministerium damals. Er sollte später aber angegangen werden.

Der Bundestag verabschiedete im Juni eine Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Darin ist auch geregelt, dass jemand, der in einer Mehrehe lebt, nicht eingebürgert werden kann. Diese Änderung ist inzwischen in Kraft. Und der Aufregertext von Franz Solms-Laubach damit völlig überholt — was nicht weiter tragisch wäre, wenn er noch auf den 6. Mai datiert wäre. Nun wirkt es allerdings so, als sei all das, was der “Bild”-Parlamentskorrespondent vor sich hinschnaubt, der Stand von gestern.

Dazu trägt auch Ralf Schuler bei, der bei “Bild” das Parlamentsbüro leitet. Er verbreitete gestern bei Twitter den aufgewärmten abgelaufenen Bild.de-Artikel, als wüsste er nicht, dass dieser längst nicht mehr aktuell ist:

Screenshot eines Tweets von Ralf Schuler - Deutscher Pass trotz Scharia-Ehe

Unter Schulers Tweet entlud sich die Wut der Wütenden:

Unglaublich!

Genau das ist mit “Unterwerfung” gemeint.

Gesetzte aus dem Irrenhaus.

Die falsche, weil überholte “Bild”-Berichterstattung ist auch für rechte Scharfmacher und Hetzer ein gefundenes Fressen:




In den Kommentaren wütet der Mob. Und niemanden interessiert es, dass die Überschrift “Deutscher Pass trotz Scharia-Ehe” exakt das Gegenteil von dem darstellt, was in Deutschland heute Gesetz ist. Aber warum sollte es das auch? Die “Bild”-Redaktion interessiert es ja auch nicht.

Gesehen bei @PatrickGensing.

Für jede Krise ein Gesicht

Vergangene Woche hat “Bild”-Selfie-Reporter Paul Ronzheimer Joshua Wong getroffen, den “Anführer des Aufstands” in Honkong.

Screenshot BILD.de: BILD trifft Hongkongs Protest-Anführer Joshua Wong - Warum lässt uns Deutschland so alleine? [Dazu ein Foto, auf dem sich Wong und Ronzheimer gegenüberstehen]

“Bild” schreibt:

Jede Revolution, jeder Aufstand, braucht ein Gesicht.

Was insofern ganz interessant ist, als die aktuelle Protestbewegung in Hongkong sehr stolz darauf ist, dass sie eben keinen Anführer hat. International schreiben Medien von Protesten “without a main figurehead”, und auch Joshua Wong selbst sagt, dass es ein “faceless and leaderless movement” sei.

“Jede Revolution, jeder Aufstand, braucht ein Gesicht” – vielleicht meint “Bild” aber auch gar nicht Wongs Gesicht.

Mit Dank an Stephan S. für den Hinweis!

Nachtrag, 22. August: Es gab Kritik an diesem Beitrag, teils sachlich, teils nun ja. Daher zur Erläuterung: Wir wollten nicht kritisieren, dass Paul Ronzheimer für seine Reportagen vor Ort ist. Unser Beitrag sollte sich auch nicht gegen Reporter im Allgemeinen richten. Was wäre das auch für eine unsinnige Kritik? Aber in Anbetracht der Tatsache, dass kaum ein Ronzheimer-Artikel in “Bild” und bei Bild.de ohne ein großes Foto auskommt, auf dem Ronzheimer zu sehen ist, fragen wir uns durchaus, was nun im Mittelpunkt steht: die Geschichten oder Paul Ronzheimer?

Dass wir auf diesen Punkt hinauswollten, haben wir offensichtlich nicht deutlich genug herausgearbeitet.

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Von Persönlichkeitsrechten im digitalen Zeitalter

Womöglich muss man schon dankbar sein, dass sie bei “Bild” nicht gleich wieder eine Titelgeschichte draus gemacht haben, nach deren Veröffentlichung eine Bildungseinrichtung bedroht wird, und sich die Polizei einschalten muss.

Aber hartnäckig drangeblieben sind sie schon an der Geschichte, dass eine Grundschule in Halle an der Saale (“kein Einzelfall!”) den Eltern verboten habe, bei der Einschulungsfeier zu fotografieren.

Ausriss Bild-Zeitung - Ist das wirklich im Sinne der gut 730000 Erstklässler oder nicht doch völliger Datenschutz-Irrsinn?

(Nein, in Halle wurden nicht “730.000 Erstklässler” eingeschult — die “Bild”-Redaktion macht es hier nur etwas genereller.)

Der Artikel vom Samstag legte dann für “Bild”-Verhältnisse überraschend sachlich die Rechtslage dar (“Eltern sollten sich bewusst sein, dass Fotos von Kindern im Internet problematisch seien”).

Aber auch gestern waren die besagte Grundschule und eine weitere in Halle noch einmal Thema in der Bundesausgabe: Eine Mutter, die sich mit ihrer Tochter von “Bild” fotografieren ließ, sagt, dass sie die Vorgabe des Schulleiters respektiert hätten. Ein Gast (!) der Einschulung wird mit den Worten zitiert, ein Foto vom eigenen Kind zu verbieten sei “Irrsinn” (eine Formulierung, die “Bild” gerne für die Dachzeile des Artikels übernahm). Und der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes erklärt:

“Natürlich muss das Recht der Kinder am eigenen Bild geschützt werden.”

Damit war das Thema für “Bild” aber noch nicht durch: Auf Seite 2 forderte Redakteur Christian Langbehn etwas melodramatisch: “Lasst uns die Erinnerungen”.

Ausriss Bild-Zeitung - Dass einige Schuldirektoren ein generelles Fotoverbot für diese Feier verhängen, ist schlicht grotesk. Gewiss, im digitalen Zeitalter ist es wichtiger denn je, auf die Persönlichkeitsrechte, insbesondere die von Kindern, zu achten. Dabei geht es aber nicht um das Fotografieren, das eigentliche Erstellen des Fotos. Sondern um den späteren Umgang damit. Die entscheidenden Fragen sind: Laden wir diese Fotos ins Internet? Und wer darf sie dort sehen?

Was so alles mit Fotos passieren kann, die zufälligerweise ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben, kann man just oben auf jener Seite 6 der “Bild”-Bundesausgabe von gestern sehen, auf der unten die Geschichte vom “Datenschutz-Irrsinn” steht: Da prangt das Foto eines 20-jährigen Geflüchteten aus Afghanistan, der am Wochenende bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde — unverpixelt, “Foto: privat”.

“BILD berichtet gern über jeden Quertreiber einzeln”

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte in ihrer Regierungserklärung gesagt, Soldatinnen und Soldaten in Uniform sollten in Deutschland künftig kostenlos mit der Bahn fahren können. Doch dieser Plan drohe nun zu kippen:

Wie der “Spiegel” berichtet, scheitert der Plan bisher an der Bahn: Die verlange 38 Millionen Euro/Jahr für die Einführung (bei geschätzt 40 000 bis 80 000 Freifahrten pro Jahr), wolle Soldaten aber nur auf ICE-Hauptstrecken fahren lassen und verlange ein eigenes Bundeswehr-Buchungssystem.

… schrieb Hans-Jörg Vehlewald gestern auf Seite 1 der “Bild”-Zeitung. Und nein, der Preis für eine Bahnfahrt ist nicht über Nacht auf irgendwas zwischen 475 und 950 Euro gestiegen. Vehlewald bekommt es einfach nicht hin, die richtigen Zahlen zu nennen: Bei rund 180.000 Soldatinnen und Soldaten, die die Bundeswehr zählt, hätten “40 000 bis 80 000 Freifahrten pro Jahr” selbst dem “Bild”-Chefreporter merkwürdig niedrig vorkommen müssen. Tatsächlich soll es um “geschätzte 400.000 bis 800.000 Freifahrten von Soldaten pro Jahr” gehen, für die die Bahn “38 Millionen Euro” veranschlagt, wie der “Spiegel” berichtet.

Zusätzlich zu seinem fehlerhaften Artikel schrieb Chefreporter Vehlewald in “Bild” gestern auch einen Kommentar zu dem Thema (“Kommt zu Potte!”), den er mit einer Drohung einer bemerkenswerten Botschaft enden ließ:

Und sollte sich irgendwer bei der Bahn oder ein Landesminister in den Weg stellen: BILD berichtet gern über jeden Quertreiber einzeln.

Wer an dem Vorhaben von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer zweifelt und etwa den legitimen Punkt aufbringt, dass sowieso schon volle Züge auf stark genutzte Strecken durch die möglichen Freifahrten der Soldatinnen und Soldaten übervoll werden könnten, muss also fürchten, von Deutschlands größter Zeitung an den Pranger gestellt zu werden. Bei “Bild” kündigen sie ihre diskursvergiftenden Kampagnen jetzt schon breitbeinig an.

Vielleicht muss sich Hans-Jörg Vehlewald aber auch erstmal gar nicht “irgendwen bei der Bahn oder einen Landesminister” vorknöpfen, sondern seinen “Bild”-Kollegen Kai Weise. Der berichtete im vergangenen Dezember über die Probleme der Deutschen Bahn: “Bei der Bahn haben wir ganz viel Dampf im Kessel!” Eine Dampfquelle laut Weise: Die Züge seien zu voll.

Mit Dank an Niklas R. für den Hinweis!

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“Bild”-Chef befeuert Debatte über Herkunft von Tätern mit Blödsinn

Momentan wird ja eine Menge darüber diskutiert, inwiefern es nötig oder vertretbar oder falsch ist, bei Verbrechen auch direkt über die Herkunft eines Täters oder Tatverdächtigen zu berichten. Julian Reichelt hatte dazu vor vier Tagen auch eine Art Gedanken:

Screenshot eines Tweets von Bild-Chefredakteur Julian Reichelt - Die Debatte über die Herkunft von Tätern wird auch dadurch befeuert, dass öffentlich-rechtliche Medien behaupten, die Herkunft sei unklar, wenn sie so unklar gar nicht zu sein scheint. Wer glaubt denn ernsthaft, dass uns solches Verschweigen und Verfälschen vor der AfD bewahrt?

Es ging um einen Vorfall im Düsseldorfer Rheinbad, bei dem Jugendliche unter anderem Rutsche und Sprungturm besetzten, woraufhin die Polizei anrücken und das Bad zum wiederholten Male räumen musste. Zum Tweet des “Bild”-Chefs gehören zwei Screenshots — einer von “RP Online”, einer von WDR.de. Worauf Reichelt sich bezieht: Bei “RP Online” steht, die Jugendlichen würden aus Nordafrika stammen (“Eine Gruppe von ungefähr 60 Jugendlichen, die laut Kettler aus Nordafrika stammen sollen”); WDR.de schreibt, die Herkunft der Jugendlichen sei derzeit unklar (“Zur Herkunft der Jugendlichen kann die Polizei im Moment nichts sagen”). Da verschweige und verfälsche die Redaktion des öffentlich-rechtlichen WDR doch was, so Reichelt.

Mal abgesehen von der generell verqueren Logik in seinem Tweet verzerrt der “Bild”-Chef hier die Informationslage: Er vergleicht eine Mutmaßung auf Grundlage von Aussehen durch den Geschäftsführer der Bädergesellschaft Roland Kettler (bei “RP Online”) mit einer offiziellen Aussage der Polizei (bei WDR.de). Außerdem steht auch im Text von “RP Online”:

Die Polizei wollte sich zur Nationalität der Jugendlichen nicht äußern.

Was Julian Reichelt “Verschweigen und Verfälschen” nennt, ist also nichts weiter, als das Wiedergeben der bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gesicherten, offiziellen Informationen.

Dazu kommt: Reichelt befeuert die Debatte über die Herkunft von Tätern mit Blödsinn, wenn er schreibt, dass die Herkunft der Jugendlichen “so unklar gar nicht zu sein scheint”, und damit meint, dass sie aus Nordafrika kommen dürften. Es ist offenbar nicht so eindeutig, wie er es klingen lässt: Die “taz” berichtet, dass “alle, deren Personalien aufgenommen wurden”, deutsche Staatsangehörige seien. Eine “nordafrikanische Herkunft liege nicht vor.” “RP Online” ergänzt, dass zumindest einer von ihnen “auch die nigerianische Staatsangehörigkeit” besitze.

Glaubt “Bild”-Chef Julian Reichelt denn ernsthaft, dass uns solch unwissendes und vorschnelles Herumgetwittere vor der AfD bewahrt?

“Pleite-Iren”? Wer schreibt denn sowas?

Der Vater einer Braut hat zur Hochzeitsfeier seiner Tochter die Bundeskanzlerin eingeladen, und nun konnte Angela Merkel leider nicht persönlich vorbeikommen, sie ließ aber immerhin eine Grußkarte an das Hochzeitspaar schicken und wünschte Braut und Bräutigam alles Gute. Da der Bräutigam 2012, also während der Wirtschaftskrise in Irland, zu einer Gruppe irischer Fußballfans zählte, die bei der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine mit einem Banner mit der Aufschrift “Angela Merkel thinks we’re at work” rumlief, ist das alles auch eine Geschichte für die “Bild”-Medien.

In “Bild am Sonntag” und bei Bild.de leiten sie den Artikel so ein:

Wirtschaftskrise, Immobilienblase, Arbeitslosigkeit und Schuldenlast. Im Sommer 2012 war Irland am Boden, das Land musste EU-Hilfen beantragen, die Einwohner wurden als ­Pleite-Iren verspottet.

Wer ist denn bitte so bescheuert und “verspottet” die Einwohner eines ganzen Landes, das bereits “am Boden” liegt, pauschal als “Pleite-Iren”?

Na, wer wohl?

Screenshot Bild.de - EU und IWF auf Rettungs-Mission in Dublin - Wie viele Euro-Milliarden bekommen die Pleite-Iren? Finanzminister deutet Einlenken an
Screenshot Bild.de - Bild.de zu Besuch bei den Pleite-Iren! Wer die Krise in Irland sucht, muss in die Geisterdörfer fahren. So nennen sie hier unbewohnte Siedlungen in den Vororten von Dublin.
Screenshot Bild.de - Die Pleite-Iren wollen rund 90 Milliarden aus dem Euro-Rettungsfonds beantragen. Voraussetzung dafür sind aber drakonische Sparmaßnahmen ähnlich wie in Griechenland.
Screenshot Bild.de - Immer neue Nachrichten von den Pleite-Iren. In Dublin geht es um die Feinheiten: Welche Bedingungen muss Irland erfüllen, um an die etwa 90 Milliarden Euro EU-Geld zu kommen.
Screenshot Bild.de - Botschafter Mulhall - Irland wird die Milliarden zurückzahlen! Die Pleite-Iren wollen sich 85 Milliarden Euro aus dem Rettungsfonds pumpen. Botschafter Mulhall verspricht: Wir zahlen die Milliarden zurück!

Und dann wären da natürlich noch die vielen, vielen Artikel zu den “Pleite-Griechen”.

Mit Dank an Tihomir V. für den Hinweis!

Stammtischjournalismus ohne Recherche

Nach den rassistisch motivierten Schüssen auf einen Eritreer im hessischen Wächtersbach, bei denen das Opfer lebensgefährlich verletzt wurde, haben “Bild”-Reporter die Stammkneipe des Täters im Nachbarort besucht, mit dem Wirt gesprochen und gleich mehrere Artikel veröffentlicht:

Ausriss Bild-Zeitung - Jetzt spricht der Wirt, bei dem der Rassist von Wächtersbach nach der Tat sein Bier trank - Er kam rein und sagte: Ich habe auf einen Asylanten geschossen
Screenshot Bild.de - Rassist feuert auf Eritreer - In meiner Kneipe prahlte er mit seinen Schüssen!
Screenshot Bild.de - Eritreer von Rassisten aus Auto angeschossen - Hier verbrachte Roland K. seine letzten Minuten - Wirt: Wir haben ihn nicht ernst genommen - BILD zu Besuch im Martinseck
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

In dieser Kneipe soll Täter Roland K. mehrmals angekündigt haben, jemanden umbringen zu wollen, auch am Tattag, bevor er aus dem “Martinseck” loszog und auf den Eritreer schoss. Bei der Polizei meldete das niemand, auch nicht der Wirt, dem die “Bild”-Medien nun eine Menge Platz geben, sich zu rechtfertigen. Immerhin “kursieren Gerüchte”, er “würde die Tat dulden.”

Und so kann der Wirt erzählen, was für ein bunter Haufen das doch in seiner Kneipe so sei:

30 Prozent von Dirks Gästen sind Ausländer: “Ob meine Gäste schwarz oder grün sind, blonde Haare oder braune Locken haben, ist mir egal. Hauptsache, sie zahlen und pöbeln nicht.”

Und die Gäste, die zum türkischen Vorbesitzer gegangen sind, kämen ja auch weiter zu ihm:

Vor vier Jahren hat Dirk “Zum Martinseck” übernommen, von einem Türken: “30 Jahre war die Kneipe in türkischer Hand. Die Gäste von damals kommen heute noch.” Morgens kommen Rentner, Urlauber. Ab halb fünf Lkw-Fahrer, Bauarbeiter nach der Schicht. Krach gab’s noch nie: “Meinungsverschiedenheiten ja. Ich lasse jedem seine Meinung. Wenn es extrem wird, wird er rausgeschmissen.”

Das, was Roland K. gemacht hat, finde der Wirt auch “nicht gut”:

Er sagte zu BILD: “Ganz deutlich, ich bin kein Nazi. Ich verabscheue die Tat aufs Schärfste. Er hat einen unschuldigen Menschen fast umgebracht, das kann man nicht gut finden. Das ist das Allerletzte.”

Und “Nazi-Sprüche”? Nee, die hätte er nicht geduldet:

Wenn Roland K. hier war, war er eher ruhig: “Wir haben eigentlich nur über Essen geredet. Er war ja Metzger, hat das gelernt, ich hab auch ‘ne Metzgerlehre gemacht, das war unsere Basis. Roland fiel nie durch Nazi-Sprüche oder sowas auf, das hätte ich nicht geduldet.”

Mit dem Willen zu fünf Minuten Recherche hätten die “Bild”-Leute mal auf die öffentliche Facebook-Seite des Wirtes gucken können. Und dort hätten sie nach etwas scrollen — denn zugegeben: die Posts liegen schon einige Jahre zurück — entdecken können, dass der Wirt “Nazi-Sprüche” selbst verbreitet hat. Etwa diesen hier von der Neonazi-Partei NPD:

Screenshot eines Posts des Wirts - Jeder Mensch hat das Recht, seine Kultur und seine Identität zu verteidigen. Auch Deutsche!

Er macht auch ganz gern mal Stimmung gegen “die Fremden”:

Screenshot eines Posts des Wirts - Mama ich habe Hunger - Ich weiß mein Schatz, aber erst kommen die Fremden dran. - Wieso Mama? - Weil man uns beide sonst als Nazis bezeichnen würde.

Reichsbürgerhaft sei “für die BRD kein Platz mehr”:

Screenshot eines Posts des Wirts - Es gibt nur ein Deutschland - und da ist für die BRD kein Platz mehr

Zudem würden “immer mehr Ausländer hier angesiedelt”:

Screenshot eines Posts des Wirts - 300.000 Deutsche ohne Wohnung, darunter 30.000 Kinder! Doch die völlig verblödeten Gutmenschen in Deutschland stehen auf der Straße, in der U-Bahn, im Supermarkt und brüllen den letzten Rest ihres Verstandes heraus, dass immer mehr Ausländer hier angesiedelt werden sollen

Außerdem: “DEUTSCH SEIN IST KEIN VERBRECHEN!”:

Screenshot eines Posts des Wirts - 300.000 Deutsche ohne Wohnung, darunter 30.000 Kinder! Doch die völlig verblödeten Gutmenschen in Deutschland stehen auf der Straße, in der U-Bahn, im Supermarkt und brüllen den letzten Rest ihres Verstandes heraus, dass immer mehr Ausländer hier angesiedelt werden sollen

Und Angela Merkel und Joachim Gauck könnte man auch mal ganz gut aus dem Flugzeug “hinunterwefen”, dann “freut sich ganz Deutschland”:

Screenshot eines Posts des Wirts - Angela Merkel und Joachim Gauck fliegen über Deutschland. Sagt Gauck: Angela, wenn ich jetzt einen Fünfhunderter hinunterwerfe, freut sich ein Deutscher. Antwortet Merkel: Wenn aber ich zehn Hunderter hinunterwerfe, freuen sich zehn Deutsche! Plötzlich murmelt der Pilot: Wenn ich euch beide hinunterwerfe, freut sich ganz Deutschland

Natürlich können Menschen ihre Ansichten nach Jahren geändert haben (sollte das so sein, könnten sie allerdings auch alte NPD-Reichsbürger-die-Fremden-kriegen-alles-und-wir-nix-Posts von ihrer Facebook-Seite löschen). Es wäre jedenfalls etwas gewesen, mit dem die “Bild”-Reporter den Wirt hätten konfrontieren können, anstatt ihn unwidersprochen von seiner angeblichen Multikulti-Kneipe erzählen zu lassen. Hätte man mal vorher recherchiert.

Schweinische Lüge

Falls es jemand nicht mitbekommen haben sollte: Ein privater Kita-Träger hatte sich dazu entschlossen, beim Mittagessen kein Schweinefleisch mehr anzubieten. Die “Bild”-Redaktion machte aus dieser Kleinigkeit, die, wenn überhaupt, für eine Lokalzeitung von Interesse gewesen wäre, eine Riesennummer auf Seite 1, andere Medien sprangen auf, rechte Hetzer übernahmen das Thema, es gab eine Menge Hass und Drohungen gegen die zwei betroffenen Kitas. Aufgrund dieser ganzen Ereignisse setzte die Kita-Leitung ihre Entscheidung aus und will sie bei den nächsten Elternabenden besprechen.

Damit hatte sich das Thema für “Bild” allerdings noch nicht erledigt. Der stellvertretende Chefredakteur Timo Lokoschat legt heute noch einmal nach:

Ausriss Bild-Zeitung - Keine Gummibärchen, kein Schnitzel, kein Osterfest - Kniefall vor den Falschen!

Den “Leiter der Leipziger Kita” — also den Mann, der sich aktuell mit Drohungen von rechten Spinnern rumschlagen muss — bezeichnet Lokoschat als “überengagierten Bessermenschen” und schreibt:

Schweinefleisch und Gummibärchen sollten künftig tabu sein. Und: Statt Weihnachts- und Ostercafé standen plötzlich nur Ramadan und Zuckerfest auf dem Themenplan der Kita.

Die Behauptung, dass Schweinefleisch und Gummibärchen in den zwei Kitas “künftig tabu sein” sollten, also: verboten, hält sich hartnäckig. Tatsächlich wollte die Kita-Leitung künftig schlicht kein Schweinefleisch mehr fürs Mittagessen bestellen. Wenn Eltern wollen, dass ihre Kinder in der Kita Würstchen essen oder gelatinehaltige Gummibärchen naschen, dann können sie ihren Kindern nach wie vor Würstchen oder gelatinehaltige Gummibärchen mitgeben. Ein Verbot von Schweinefleisch gibt es nicht.

Und auch, dass “statt Weihnachts- und Ostercafé (…) plötzlich nur Ramadan und Zuckerfest auf dem Themenplan der Kita” stünden, hat sich Lokoschat ausgedacht. Der Terminkalender der Kitas sah schon immer und sieht auch jetzt Feste und Thementage aller möglichen Religionen vor: christliche, jüdische, hinduistische, muslimische. Das “nur” in Lokoschats Satz ist genauso falsch wie das “plötzlich”.

Tatsächlich wurde den Eltern heute ein neuer “Jahresplan” für die zwei Kitas zugeschickt. Und tatsächlich gibt es dort zwei auffällige Änderungen: Der eingetragene Termin am 6. Dezember 2019, der bisher “ElternCafe” hieß, heißt in der heute rumgeschickten Version “Nikolausfeier”. Und der Termin am 7. April 2020, der bisher ebenfalls “ElternCafe” hieß, heißt nun “Oster Cafe”. Ein Vater sagte uns allerdings, dass im vergangenen Jahr auch schon Nikolaus und in diesem Jahr auch schon Ostern gefeiert wurde (was sonst wird wohl am 6. Dezember und an einem Tag in der Karwoche gefeiert?).

Was Lokoschat verschweigt: Sowohl in der alten Version des “Jahresplans” als auch in der neuen ist für den 11. November, den Martinstag, ein sehr christliches Martinsfest eingetragen. Am 13. September soll es ein chinesisches Mondfest geben (zum Hintergrund: eine der beiden Einrichtungen heißt “Konfuzius Kindergarten”). Am 26. Januar soll in den Kitas das chinesische Neujahr gefeiert werden. Am 24. Februar Fasching. Und am 17. Juli das Zuckertütenfest für die Kinder, die sich Richtung Grundschule aufmachen. Wie gesagt: alles sowohl im alten als auch im neuen “Jahresplan”. Was es weder in der einen noch in der anderen Version gibt: ein Feier zu einem muslimischen Fest. Dafür gibt es einen Eintrag zu Bayram, also zum muslimischen Zuckerfest. Allerdings soll das in den Kitas nicht gefeiert werden — es soll ein Thementag dazu stattfinden: für den 25. Mai ist im alten wie im neuen Kalender “Thementag Bayram” vermerkt. Genauso sollte es in den Kitas schon immer Thementage zum jüdischen Sukkot und zum hinduistischen Diwali geben. Zum muslimischen Ramadan gibt es erst in der neuen Version des “Jahresplans” einen Thementag; im alten waren lediglich der Beginn und das Ende des Fastenmonats als Termine vermerkt. Ein Vater sagte uns, dass die Kinder an den Thementagen nicht teilnehmen müssen. Sie können stattdessen auch spielen oder malen.

Wenn der stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Timo Lokoschat also schreibt, dass “plötzlich nur Ramadan und Zuckerfest auf dem Themenplan der Kita” stehen, obwohl er wissen muss, dass das nicht stimmt, schließlich scheint ihm der “Themenplan der Kita” vorzuliegen, dann ist das eine glatte Lüge.

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