Erklärräume, Kommentare, Küng

1. “Sich die Blogger-Kultur aneignen”

(nzz.ch, Heribert Seifert)

Heribert Seifert liefert einen Überblick über die Anstrengungen der etablierten Medienhäuser, was mit Blogs zu machen. Fazit: “Zu viele uninspirierte, nur als Pflichtprogramm betriebene Blogs, die von knausrigen Verlagen vor allem als Landnahme auf einem weiteren Medienspielplatz ohne Bereitschaft zu Investition und netzspezifischem Engagement installiert werden, zeugen nicht gerade von Vitalität und journalistischer Phantasie.”

2. “Kein öffentliches Interesse”

(20min.ch, Lukas Mäder)

“Gibt es für Normalbürger im hintersten passwortgeschützten Winkel des Internets noch eine Privatsphäre? Der ‘Blick’ findet Nein – und publiziert Sado-Maso-Bilder einer Sekretärin. Juristen sehen die Rechte der Betroffenen verletzt.” Siehe auch “Darf sich eine ‘Blick’-Autorin so zeigen?

3. “Schöner Kommentieren mit Datenschutz”

(stefan-niggemeier.de)

Stefan Niggemeier wird es nicht leicht gemacht, ein Blog zu führen, das Kommentare zulässt. Einerseits soll er alle Kommentare sozusagen unverzüglich prüfen, andererseits soll er nicht mal eine E-Mail-Adresse verlangen dürfen. Der gar nicht rechtsfreie Raum Internet führt dazu, dass nun Kommentierwillige mit den Worten “Mit dem Absenden Ihres Kommentars willigen Sie ein…” gewarnt werden.

4. “Das Gefühl, ein linkischer Zwerg zu sein”

(sz-magazin.sueddeutsche.de, Miriam Meckel)

Miriam Meckel schildert den Spießrutenlauf roter Teppich: “Ich blicke in 100 Augenpaare, versteckt hinter 100 Linsen. 300 Augen und Linsen starren zurück.”

5. Im ZDF-Erklärraum

(faz.net, Michael Hanfeld)

Ab dem 17. Juli werden beim ZDF die Nachrichten in “einer großen grünen Höhle oder Hölle”, die 30 Millionen Euro gekostet hat, verlesen. Für die Journalisten heisst das: “Ihre Aufgabe wird anspruchsvoller, sie müssen sich als Meister des modernen Nachrichtenfünfkampfs beweisen – sie verlesen nicht mehr nur Nachrichten, sie moderieren, schreiten umher, gestikulieren, deuten und führen Interviews, bei denen die Kamera den Sprechenden im Studio über die Kamera schaut oder das zugeschaltete Gegenüber an die Stelle ‘beamt’, die der Moderator avisiert.”

6. Downsizing-Kongress Journalismus

(dasmagazin.ch, Max Küng)

“Ich weiss: Wenn mein Sohn dereinst in der Schule gefragt wird, was sein Vater arbeitet und er ‘Journalist’ sagen wird, dann werden seine Mitschüler den Mund verziehen, als habe man ihnen Essiglösung injiziert, sie werden die Augen verdrehen und sich die Hände vors Gesicht schlagen, der Lehrerin wird ein ‘Oje’ entfahren, und sie wird denken: ‘das arme Kind’.”

Eine Welt voller Kinderschänder

Vielleicht liegt es ja an der allgemeinen Aufregung um das Thema, dass man in Redaktionen inzwischen nahezu alles für denkbar hält, was mit Kinderpornographie zu tun hat. Sogar, dass es sich dabei in den allermeisten Ländern der Welt um etwas handelt, was nicht einmal strafbar ist. Jedenfalls schreibt die Nachrichtenagentur AP in ihrer Berichterstattung über eine europäische Konferenz zum Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt in den Medien:

Denn eines der größten Probleme sei die weltweite Verfügbarkeit kinderpornografischer Bilder. Die Ministerin [von der Leyen] wies darauf hin, dass Kinderpornografie in 95 Prozent der Länder weltweit noch kein Straftatbestand sei.

Und auch “Spiegel Online” plappert munter und unreflektiert nach:

Die Ministerin wies darauf hin, dass Kinderpornografie in 95 Prozent der Länder weltweit noch kein Straftatbestand sei.

95 Prozent aller Länder weltweit? Das wäre dann in der Tat skandalös — und ebenso erstaunlich, dass dies bisher noch nirgends thematisiert worden ist. Was aber auch daran liegen könnte, dass nicht mal Ursula von der Leyen so etwas behaupten würde. Mitgeteilt hat die Bundesregierung stattdessen:

Sie [von der Leyen] machte darauf aufmerksam, dass es weltweit knapp 100 Länder gebe, in denen Kinderpornographie kein Straftatbestand sei.

Und selbst diese Zahlen — die dann noch ziemlich weit von “95 Prozent aller Länder” entfernt sind — könnte man übrigens noch massiv anzweifeln.

Mit Dank an Gerd K. und andere Hinweisgeber!

Nachtrag, 3.7.: “Spiegel Online” hat den Text korrigiert — und erklärt auch, warum.

Bild  

Franz Josef Franjo Michael Wilhelm Pooth

In Köln ist diese Woche ein Mann festgenommen worden, der offenbar den Unternehmer Franjo Pooth und andere Prominente mit gefälschten Unterlagen über angebliche Schwarzgeldkonten erpressen wollte.

Er muss dabei ziemlich schlampig vorgegangen sein, wie “Bild” heute berichtet:

Der Personalausweis war leicht als Fälschung zu erkennen: Als Vorname war Franz Josef angegeben, in Wirklichkeit heißt Veronas Mann Franjo Michael.

Nun kann man natürlich nur vermuten, wie der mutmaßliche Täter auf die Idee gekommen ist, Franjo Pooth könne “Franz Josef” heißen:

  • Er könnte der Wikipedia geglaubt haben.
  • Er könnte sich auf die rund 300 Google-Treffer zu “Franz Josef Pooth” verlassen haben — darunter Artikel im “Kölner Stadtanzeiger” und Programmhinweise der ARD. (“Franjo Michael” liefert außer den “Bild”-Artikeln übrigens keine Treffer im Zusammenhang mit Pooth.)
  • Er könnte im “Bild”-Archiv nachgesehen haben:

    Ihr Dauerbegleiter Franz-Josef (“Franjo”) Pooth (32) ist gar kein Architekt – obwohl Verona und Franjo das immer wieder stolz behauptet hatten.

    (“Bild” vom 16.03.2002)

    Franz-Josef Pooth – so heißt der Ehemann von Verona Pooth (40) mit richtigem Namen – erschien nicht beim Millionenprozess um seine Pleite-Firma “Maxfield”.

    (“Bild” vom 24.09.2008)

Mit Dank an Micha B. und Moritz D.

Nachtrag, 5. Juli 2009: Bild.de hat die Behauptung “in Wirklichkeit heißt Veronas Mann Franjo Michael” inzwischen aus dem Artikel entfernt.

In der Bildergalerie aber findet sich noch das hier:

Verona & Franjo - Die schönsten Bilder der Pooths: Gefälschter Ausweis: Franjo Pooth heißt nicht Franz Josef, sondern Franjo Michael

@sachark, Hagemann, Manipulationen

1. “Die vierte Gewalt ist jetzt im Netz”

(perlentaucher.de/blog, Anja Seeliger)

Brillante Entgegnung auf den Enteignungs-Text von Hubert Burda. Sie zählt unter anderem auf, auf welchen Wegen die deutschen Zeitungsverleger “zum Schutz überkommener Geschäftsmodelle” nach dem Staat rufen. Sie fordern eine “Zwangsgebühr namens Kulturflatrate”, eine “staatliche Beaufsichtigung der Suchmaschinen”, eine “Umverteilung der Anzeigenerlöse der Suchmaschinen”, ein “Leistungsschutzrecht, das die Grundvoraussetzung für die Schaffung einer Gema für Onlinetexte wäre” und dazu eine “staatliche Überwachung des Internets”.

2. “Manipulation – Politiker und Prominente schönen ihre Interviews”

(ndr.de, Video, 7:23 Minuten)

Hannah Herzsprung, Martina Gedeck, Heike Makatsch, Olaf Scholz. Sie alle, bzw. ihr Management lassen Interviews zur Farce verkommen, in dem sie so lange am Text rumwerkeln, bis aus dem Gespräch eine PR-Story in eigener Sache wird.

3. Interview mit Matthias Hagemann

(werbewoche.ch, Markus Knöpfli)

Der Verleger der Basler Zeitung Medien (BZM) denkt laut über Kooperationspartner nach: “Für uns sind primär der Wille der Aktionäre und sodann vor allem die Synergien entscheidend – und letztere kann nicht nur Tamedia bieten. Wir haben uns schon lange und nicht nur in der Schweiz umgeschaut, sondern auch weiter nördlich.”

4. Die WOZ und der Bundespräsident

(woz.ch, Daniel Ryser)

“Vor zwei Wochen publizierte die WOZ unveröffentlichte erotische Fantasien des Hobbyschriftstellers Hans-Rudolf Merz, Bundespräsident und Finanzminister [WOZ vom 11. Juni 2009]. Am Donnerstag, 25. Juni, schreibt Hans-Rudolf Merz der WOZ deshalb einen Brief: ‘Ich habe diesen Text vor Jahren zu meinem privaten Vergnügen verfasst. Ich fordere Sie auf, künftige Veröffentlichungen des Textes zu unterlassen.’ Die WOZ kommt der Bitte nach.”

5. Interview mit Sachar Kriwoj

(spox.com, Andreas Allmaier)

Twitter-User @sachark hörte im Zug ein Gespräch von zwei Spielerberatern und einem Anwalt über einen möglichen Wechsel von Michael Ballack mit und twitterte drüber. Viele Medien berichteten drüber, doch kaum eines hat bei ihm nachgefragt: “Ich habe mich schon gewundert, dass manche Medien das alles sofort als ‘Ente’ abgetan haben. Dass die Beteiligten dementieren, wundert mich nicht. Das ist bei Wechsel-Gerüchten ja nicht unüblich.”

6. “Die letzte Zeitung der Welt”

(christoph-koch.net)

“’The Budget’ aus Ohio ist die Wochenzeitung der Amish People. Manches an ihr wirkt plötzlich sehr modern.”

Unglück im Glück

Das “Hamburger Abendblatt” berichtete am Sonntag in seinem Internet-Auftritt über einen ungewöhnlichen Zwischenfall:

Ein 13-stöckiges Hochhaus ist in Shanghai umgekippt - doch trotz des Sturzes blieb es weitgehend unversehrt. Tote gab es keine, jedoch einen Verletzten.

Und für die medizinisch Interessierten klärt der Artikel (der – anders als die Einleitung – von dpa stammt) drei Zeilen später über die Art der Verletzungen auf:

Ein 28 Jahre alter Arbeiter wurde unter dem Gebäude begraben und tödlich verletzt, wie lokale Medien berichteten.

Mit Dank an Thomas W.

Netzwerk Recherche, Blick, Bankhofer

1. “Die Enteigner der Enteigneten werden enteignet”

(frei.djv-online.de)

“In der F.A.Z. meint der Zeitschriftenverlegerpräsident, er werde enteignet. Nicht etwa qua Bundesregierung: Durch Google und so. (…) Die freien Journalisten werden seit über einem Jahrzehnt täglich enteignet.”

2. Hademar Bankhofer vs. viele rückgratslose Feiglinge

(gesundheitswelten.com)

Der österreichische “Journalist” Hademar Bankhofer empfiehlt 30 Sekunden langes Händewaschen und nennt seine Absetzung eine “ganz hundsgemeine Intrige”: “Ohne Unschuldsvermutung” habe man sich sofort von ihm getrennt. Er habe da “zum ersten Mal gemerkt, wie viele rückgratslose Feiglinge, (…) wie viele Arschlöcher es gibt.” Und: “Es wurden sogar Leute dafür bezahlt, im Internet recht viel Wirbel darum zu machen.” (Audio-File auf gesundheitswelten.com / Ausschnitt daraus bei stefan-niggemeier.de)

3. “Der Enthüllungsblogger”

(freitag.de, Sabine Pamperrien)

Sabine Pamperrien geht näher auf die Arbeit der bloggenden Journalisten Marvin Oppong und Jens Weinreich ein. Kritik gibt es am Verband Netzwerk Recherche, deren Mitglieder manchmal im Eifer vergessen, Quellen zu erwähnen: “Die rührigen Netzwerker haben es geschafft, durch geschicktes Marketing sich selbst als Synonym für investigativen Journalismus zu etablieren – ohne ihn überhaupt noch betreiben zu müssen. Vorwiegend besteht ihre Funktion inzwischen darin, als gut vernetztes Kartell dafür zu sorgen, sich gegenseitig in Szene zu setzen.”

4. “Iran und die Fakten eines Leitmediums”

(heise.de/tp, Marcus Klöckner)

“Seit der Wahl im Iran wird über den Ausgang diskutiert: War es Wahlbetrug oder nicht? Ein Spiegel-Artikel liefert ein groteskes Bild eines mainstreammedialen Wirklichkeitsverständnisses. Eine Analyse.”

5. “Blick öffnet die unterste Schublade”

(klartext.ch/blog, Nick Lüthi)

Das Boulevardblatt Blick bringt ohne erkennbaren Anlass im Internet veröffentlichte Nacktfotos einer Sozialamtsleiterin auf die Titelseite. Und fragt dann im Dorf nach, was jetzt die Leute über die Frau denken. Die Leser mögens gar nicht und greifen die Zeitung an.

6. “I studied print journalism: Now what?”

(salon.com, Cary Tennis)

“I did internships, made connections, got clips, etc., but my parents are still paying my cellphone bill.”

Alle fünf mal grade weglassen

Der Lissabon-Vertrag, über dessen Rechtmäßigkeit heute das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, hatte bei der Abstimmung im Bundestag im vergangenen Jahr eine breite Mehrheit gefunden. Aber ganz so dramatisch, wie es “Spiegel Online” heute darstellt, ist es dann doch nicht. Dort hieß es zunächst:

Die CSU-Abgeordneten Gauweiler und Willy Wimmer hatten als einzige gegen den Lissabon-Vertrag gestimmt.

Dabei hat die Fraktion der “Linken”, die auch gegen den Vertrag geklagt hat, schon damals fast geschlossen gegen den Gesetzesentwurf der Bundesregierung gestimmt. Offenbar hat das irgendwann auch jemand bei “Spiegel Online” gemerkt und nebenbei die Parteimitgliedschaft von Willy Wimmer korrigiert. Nun lautet die Passage:

Die Unions-Abgeordneten Gauweiler (CSU) und Willy Wimmer (CDU) hatten als einzige aus ihrer Fraktion im April 2008 im Bundestag gegen den Lissabon-Vertrag gestimmt.

Doch auch das stimmt nicht. Übersehen hat “Spiegel Online” noch fünf weitere Unionsabgeordnete, darunter auch den heutigen CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, die gegen den Vertrag stimmten. Was übrigens gar nicht schwer herauszufinden gewesen wäre, schließlich sind alle namentlichen Abstimmungen auf der Webseite des Bundestags fein säuberlich dokumentiert.

Als die Nachrichtenagentur AFP dann aber um 11.35 Uhr eine Meldung absetzte, die sich weitgehend auf “Spiegel Online” beruft, kam es (womöglich beim Kopieren) zu einer nicht nur faktisch, sondern auch grammatisch unglücklichen Formulierung:

Wimmer hatte zusammen mit Gauweiler als einzige Abgeordnete der Unionsfraktion im April 2008 gegen den EU-Verfassungsvertrag im Bundestag gestimmt.

Mit Dank an Fabian L.

Nachtrag, 20:30 Uhr. “Spiegel Online” hat sich korrigiert.

Echtzeit-Web, Bildblog, Gossweiler

1. “Michael Jackson – Jahre vor seinem Tod”

(bildblog.de, Lukas Heinser)

Bild, Welt und Berliner Morgenpost machen ihre Titelseiten auf mit Fotos von Michael Jackson, die angeblich “Stunden vor seinem Tod” aufgenommen wurden. Sie stammen aber aus dem November 2003.

2. “Bildblog – Alles Müll oder was?”

(merkur.de, Katharina Zeckau)

“Seit fünf Jahren beobachtet der Journalist Stefan Niggemeier Deutschlands größte Boulevardzeitung und listet ihre Fehler im Internet auf. Zarte Anzeichen einer Läuterung hat er erkannt.”

3. Interview mit Urs Gossweiler

(persoenlich.com, Corinne Bauer)

Der Verleger der Jungfrau Zeitung spricht sich klar gegen “gegen jegliche staatliche Stützungsmassnahmen” der Branche aus und stellt sich “gegen das Manifest [PDF] des Schweizerischen Zeitungsverlegerverbandes”: “Im Moment hat man tatsächlich den Eindruck, dass gewisse Verleger ausschliesslich mit der Frage beschäftigt sind, wie man möglichst schnell ein Konjunkturpaket vom Bundesrat erhalten kann.”

4. “Das ‘Echtzeit-Web’ und die Zukunft des Journalismus”

(urchs.de, Ossi Urchs)

Durch das Echtzeit-Web verlieren Journalisten “Autorität, die wesentlich auf mehr oder weniger exklusiven Zugängen zu Informationen und einem Zeitvorsprung bei ihrer Verbreitung gegründet war”. Noch nicht verstanden haben viele, “dass sie mit dem Echtzeit-Web ein neues, machtvolles Werkzeug in die Hände bekommen, das ihre Möglichkeiten nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ vergrößert.”

5. Interview mit Nicole Simon

(faz.net, Stefan Herber)

Die Buchautorin von “Twitter – Mit 140 Zeichen zum Web 2.0” gibt Auskunft: “Viele, vor allem die mittleren und kleinen Unternehmen, haben ja bis heute noch nicht einmal eine brauchbare Onlinestrategie. Wie sollen sie da Twitter verstehen?”

6. “China: Der große Kinderklau”

(ardmediathek.de, Video, 7:31 Minuten)

Ein bedrückender Report des Weltspiegels aus China, wo nicht wenige Kinder pro Jahr entführt werden wie hierzulande, sondern Tausende.

Vorab Twittern? Wer macht denn sowas?

“Gefährliches Zwitschern” ist ein Artikel im aktuellen “Spiegel” überschrieben. Mit dem “Zwitschern” sind die Kurznachrichten des Online-Dienstes Twitter gemeint, und “gefährlich” sind die nach Ansicht des Bundeswahlleiters und von Politikern, wenn durch sie vor dem Schließen der Wahllokale die vertraulichen Ergebnisse von Wählerbefragungen veröffentlicht werden. Das könnte eine “verfassungswidrige” Beeinflussung der Wahl sein, weiß der “Spiegel” und warnt:

Bürger oder Parteien könnten das Ergebnis anfechten, womöglich müsste die Wahl wiederholt werden.

Weil sich “mögliche Twitter-Informanten” laut “Spiegel” möglicherweise nicht einmal von einer drohenden Geldbuße abschrecken lassen würden, sei sogar ein Verbot der Befragungen am Wahltag im Gespräch.

Bundeswahlgesetz § 49a

Ordnungswidrig handelt, wer (…) Ergebnisse von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit veröffentlicht.

Aber wer macht sowas überhaupt: vertrauliche Umfrageergebnisse vorzeitig per Twitter in Umlauf bringen, anonym womöglich und aus den geheimnisvollen “rechtsfreien Zonen”, von denen die Verlage gerade so viel raunen? Der “Spiegel” bleibt an dieser Stelle sehr vage, lenkt aber den Verdacht auf die Politiker, die bei der Bundespräsidentenwahl das Handy nicht aus lassen konnten. Doch das war vielleicht stillos, konnte die Wahl aber nicht mehr beeinflussen und war auch nicht gesetzlich verboten.

Anders war es bei diesen Umfrageergebnissen vom Tag der Europawahl vor drei Wochen (die sich hinterher allerdings als nicht wirklich treffend herausstellen sollten):

Und wer ist der gefährliche Zwitscherer, der diese Zahlen deutlich vor der Schließung der Wahllokale verbotenerweise per Twitter öffentlich machte? Jan Fleischhauer, Redakteur bei einem großen deutschen Nachrichtenmagazin.

Bild, focus.de  etc.

Michael Jackson – Jahre vor seinem Tod

Man kann nicht sagen, dass “Bild” dieser Geschichte nicht genug Platz eingeräumt hätte:

Michael Jackson Stunden vor seinem Tod - Da tanzte er noch auf dem Tisch

Im Innenteil widmet “Bild” Jackson drei Seiten, zeigt “die letzten Fotos” und wagt weitreichende Interpretationen:

Vor vier Tagen starb der “King of Pop” mit nur 50 Jahren. Nur wenige Stunden zuvor probte er noch in Los Angeles für seine neue Show. Jacko trägt schwarze Klamotten, er tanzt, er wirkt gelöst, zufrieden, er spricht mit den Komparsen. Es sind Fotos der letzten Probe, die das Drama um Michael Jackson in einem noch mysteriöseren Licht erscheinen lassen. Denn der Jackson, den wir auf den Fotos sehen, sieht nicht totkrank [sic] aus.

Dass Jackson auf den Fotos so vital wirkt, könnte natürlich auch damit zusammenhängen, dass sie nicht am “vergangenen Mittwoch” entstanden sind, sondern schon etwas früher: im November 2003, bei den Dreharbeiten zum Musikvideo “One More Chance”, das nie fertiggestellt wurde, weil zeitgleich die Ermittlungen gegen den Popstar wegen Kindesmissbrauchs begannen.

Ein Kalender für 2006 zeigt Jackson im gleichen Aufzug und mit der gleichen Frisur an dem Tisch sitzen, auf dem er angeblich am Mittwoch tanzte.

Möglicherweise ist das auch der Grund, warum der Artikel bei Bild.de — ohne jede Erklärung — plötzlich nicht mehr verfügbar ist.

Aber “Bild” ist nicht als einziges Medium auf die umetikettierten Fotos hereingefallen. Auch “Welt” und “Berliner Morgenpost” und viele andere internationale Medien berichteten über die Bilder vom “Tag vor seinem Tod”. Auch der Internetdienst TMZ.com, der am Donnerstag als erstes Medium über Jacksons Tod berichtet hatte, zeigte zwischenzeitlich die Fotos und präsentierte sie als neu.

“Focus Online” hat inzwischen recherchiert, wie es zu dem Vorfall kommen konnte:

Des Rätsels Lösung: Die “Bild”-Zeitung ist einem dreisten Betrug aufgesessen, denn die Aufnahmen schienen zwar exklusiv und noch nie veröffentlicht worden zu sein, doch sie entstanden bereits 2003. “Es stimmt, die Bilder sind sechs Jahre alt”, erklärte Michael Symanowski von der Potsdamer Agentur Reflex im Gespräch mit FOCUS Online. […]

“Wir sind den Tränen nah”, sagt Michael Symanowski. Für die “Bild”-Redaktion gilt heute sicher das Gleiche.

Was “Focus Online” dabei elegant verschweigt: In einem eigenen Artikel, auf den sich wiederum max.de und tvspielfilm.de bezogen, prangten bis vor kurzem noch diese Bilder:

Einen Tag vor seinem Tod steht Jackson nochmals im Rampenlicht, klatscht seine Komparsen ab. / Jacksons letzter Tisch-Tanz.

PS: Einigermaßen bemerkenswert ist übrigens die selektive Wahrnehmung der “Focus Online”-Redaktion:

Die Verwunderung war groß, als der Blick in die Montagausgabe der “Bild”-Zeitung fiel. Stolz präsentierte das Blatt die angeblich letzten Fotos von Michael Jackson. […]

Doch schnell kamen Zweifel an der Echtheit der Bilder auf.

Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.

Nachtrag, 16:15 Uhr: “Focus Online” hat seinen Artikel noch mal ein bisschen nachbearbeitet. Plötzlich finden sich darin auch Bezugnahmen aufs eigene Medium:

Auch FOCUS Online war den falschen Bildern zunächst aufgesessen und hatte einige davon für die Berichterstattung zum Tod von Michael Jackson übernommen. […]

Die “Bild”-Zeitung und andere Medien, darunter auch FOCUS Online, sind einem dreisten Betrug aufgesessen […]

Über die Tränen der “Bild”-Redaktion wird dafür nicht mehr gemutmaßt.

2. Nachtrag, 17:15 Uhr: Bild.de erklärt in einem eigenen Artikel, wo die falschen Bilder herkamen, und schließt ungewohnt offen:

Ausdrücklich bedankt sich BILD bei den zahlreichen Michael-Jackson-Fans, die uns auf den Schwindel aufmerksam gemacht haben. Dass auch wir darauf reingefallen sind, bedauern wir.

3. Nachtrag, 30. Juni: Auch “Welt Online”, “Berliner Morgenpost” und “Frankfurter Rundschau” haben bereits gestern teils ausführlich erklärt, wie die falschen Bilder in ihre Angebote gekommen waren.

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