Absturz mit Ansage

Die Sonne ist heute in Berlin um zwei Minuten später aufgegangen als gestern. Erstaunlicherweise war das aber nicht einmal “Spiegel Online” einen unheilschwangeren Artikel wert. Das könnte daran liegen, dass die Entwicklung abzusehen war. Das allein erklärt die fehlenden Schlagzeilen aber nicht.

Heute morgen ist der Aktienkurs der Deutschen Bank eingebrochen, und das Bemerkenswerte daran ist, dass man das gestern schon wissen konnte. Die Aktie wird nämlich seit heute ohne das Bezugsrecht auf die neuen Aktien gehandelt, die das Unternehmen ausgeben wird, und der Kurs liegt um den Wert dieses Bezugsrechtes niedriger. Deshalb war klar, dass unabhängig von irgendwelchen anderen Einflüssen allein aus technischen Gründen die Aktie um diesen Betrag niedriger in den Handel gehen würde, das macht über acht Prozent aus.

Aktien-Experten wussten das. Und zum Beispiel die “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” hat es ihren Lesern freundlicherweise vorab schon erklärt; “Der Aktionär” riet online vor der Börsenöffnung: “Aktionäre der Deutschen Bank sollten beim Anblick des heutigen Kurses nicht in Panik verfallen.”

Nun sind aber, anders als man vielleicht glauben könnte, Journalisten, die über Aktien berichten, nicht unbedingt Aktien-Experten. Und wer ahnungslos auf die reinen Zahlen schaut, gerät schnell und ganz unnötig ins Hyperventilieren.

Wie die Nachrichtenagentur AFP. Die meldete heute morgen um 9.22 Uhr:

Deutsche-Bank-Aktien stürzen nach Gewinnwarnung acht Prozent ab

Frankfurt/Main, 22. September (AFP) – Die Aktien der Deutschen Bank sind am Mittwoch nach einer Verlustwarnung des Konzerns vom Vortag massiv abgestürzt. Die Papiere des Konzerns verloren an der Deutschen Börse in Frankfurt am Main kurz nach Handelsstart über acht Prozent. Deutschlands größte private Bank hatte am Dienstag mitgeteilt, dass sie für das dritte Quartal von Juli bis September mit einem Verlust rechnet. (…)

Noch einmal: Der “Absturz” war schon am Tag vorauszusehen und er hatte nichts mit der Gewinnwarnung zu tun.

Doch obwohl Reuters bereits eine halbe Stunde zuvor den Abschlag von 8,8 Prozent berichtet und richtig eingeordnet hatte, wurde die sensationsheischende Falschmeldung von AFP mit der branchenüblichen Besinnungslosigkeit von den Online-Medien übernommen. “Spiegel Online” meldete aufgeregt:

Aktie tief im Minus: Anleger strafen Deutsche Bank ab

An der Frankfurter Börse spekulieren die Investoren massiv gegen die Deutsche Bank: Nachdem das Institut vor einem Verlust warnen musste, fiel die Aktie am Mittwochmorgen um bis zu acht Prozent in die Tiefe. Bereits am Vortag war der Kurs abgestürzt.

Frankfurt am Main – Aktien der Deutschen Bank sind am Mittwoch nach einer Verlustwarnung vom Vortag massiv abgestürzt. Der Konzern rechnet für das dritte Quartal mit einem negativen Ergebnis. Diese Nachricht gab das größte deutsche Geldhaus bereits am Dienstag bekannt – woraufhin der Aktienkurs um rund fünf Prozent fiel. Doch auch am Mittwochmorgen ist noch keine Erholung in Sicht. Im Gegenteil: Die Papiere notierten am Vormittag zeitweise mit rund acht Prozent noch kräftiger im Minus.

“Welt Online” titelte: “Nach Verlustwarnung: Deutsche-Bank-Aktien stürzen in den Keller”, die Internetableger von “Stern” und “Rheinischer Post” schrieben: “Nach Gewinnwarnung: Deutsche-Bank-Aktien stürzen acht Prozent ab”.

Es dauerte bis 15:51, bis AFP in einer Meldung den Sachverhalt richtig darstellte, allerdings ohne die Falschmeldung vom Morgen explizit zu korrigieren. Aber auch “Welt Online” und “RP-Online” verzichteten darauf, den Fehler ihren Lesern zu erklären, und verbesserten nur klammheimlich ihre Artikel. “Spiegel Online” hat seiner neuen Fassung, die plötzlich harmlos “Bezugsrechtehandel drückt Aktienkurs” heißt, immerhin einen Hinweis auf den früheren Fehler hinzugefügt.

Beim Rumpfonlineangebot des “Stern” steht natürlich weiterhin die alte Falschmeldung. Rechnet man den rein technischen Kursrückgang heraus, hat die Deutsche-Bank-Aktie heute übrigens sogar an Wert gewonnen.

Mit Dank an Stefan K.!

Foto: Wikipedia

Creative Commons-Lizenzen sind eigentlich toll für Redaktionen: Tausende Fotografen stellen ihre Werke im Internet kostenlos zur Verfügung und wollen nicht viel mehr als ein bisschen Anerkennung. Ein besonderer Schatz ist das Bilderarchiv der Online-Enzyklopädie Wikipedia, die “Wikimedia Commons“. Hier findet man über sieben Millionen Dateien, die jedermann kostenlos nutzen darf — sogar für kommerzielle Zwecke. Allerdings muss man einige Bedingungen erfüllen:

Dies sind im wesentlichen:

  • der Autor muss genannt werden,
  • die Lizenz muss genannt werden, so dass jeder Leser sehen kann: dieses Bild darf er selbst kostenlos weiter nutzen.

Die Umsetzung im Pressealltag sieht jedoch etwas anders aus. So bebildert die “Stuttgarter Zeitung” einen Artikel über den ehemaligen hessischen Regierungssprecher Dirk Metz so:

Neuer Sprecher für Mappus: Metz will Meinungstrend drehen - Foto: Wikimedia Commons

Der Fehler wird so häufig gemacht, man kann ihn einen Klassiker nennen: Wikimedia Commons ist keinesfalls der Autor, lediglich die Fundstelle des Bildes. Der Fotograf heißt – wie man unschwer der Bildbeschreibungsseite entnehmen kann – Armin Kübelbeck und er hat sein Bild unter die Lizenz “Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported” – oder kurz: cc-by-sa – gestellt. Damit auch jeder nachvollziehen kann, was darunter zu verstehen ist, sollte möglichst ein Link auf die Lizenz gesetzt werden. Ein korrekter Lizenzhinweis sähe deshalb zum Beispiel so aus:

Foto: Armin Kübelbeck unter cc-by-sa

Ein wenig mehr Arbeit hat sich die “Kölnische Rundschau” bei einem Artikel über aussterbende Arten gemacht:

Die Gletscher rund um den Globus schmelzen. (Bild: Ben W. Bell/wikimedia)

Der Autor wird genannt, auch ein rudimentärer Hinweis auf die Fundstelle fehlt nicht — allein: Wo ist die Lizenz? Woher soll der Leser wissen, dass er das Bild kostenlos weiter verwenden darf? Korrekt könnte die Bildunterschrift daher lauten:

Die Gletscher rund um den Globus schmelzen. (Bild: Ben W. Bell/wikimedia unter cc-by-sa).

Etwas mehr Aufmerksamkeit erfordert die im Artikel verlinkte Fotogalerie: Die Redakteure der “Kölnischen Rundschau” bedienten sich hierfür auch bei Fotografen, die ihre Bilder in der Bilderbörse Flickr eingestellt und nicht zur kommerziellen Verwendung freigegeben hatten. Doch hier scheint das Motto zu gelten: Wo kein Kläger, da kein Richter.

Schon fast korrekt schaffte es die Online-Redaktion der “Frankfurter Rundschau” ein Bild zur Illustration eines Artikels über den ermordeten ukrainischen Journalisten Georgi Gongadse zu verwenden:

‘Gedenktafel

Name, Fundstelle, CC-Lizenz – aber welche? Es gibt mehrere Abarten der CC-Lizenz, die mehr oder minder strenge Vorschriften für die Weiterverwendung machen. Nur vier Buchstaben und ein Link fehlen, damit die “Frankfurter Rundschau” vielen Kollegen eine Nase drehen kann. Die korrekte Bildunterschrift lautete dann:

Gedenktafel in Kiew für “Journalisten, die ihr Leben für die Wahrheit ließen”.
Foto: Elke Wetzig/wikipedia/cc-by-sa



Nachtrag, 22. September, 19 Uhr
: Die Stuttgarter Zeitung hat inzwischen nachgebessert. Der Lizenzhinweis lautet jetzt — fast wie von uns vorgeschlagen — so:

Foto: Armin Kübelbeck unter cc-by-sa

Alleine der Link auf die Lizenz fehlt immer noch. Dies mag freilich am Redaktionssystem liegen: nicht jedes System lässt in Bildunterschriften Links zu.

Lörrach, Stuttgart21, Mario Basler

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Bild-Zeitung-Lüge zur Blockadenacht im Stuttgarter Schlossgarten”
(buntgrau.de, Jo Schwarz)
Jo Schwarz dementiert den “Bild”-Artikel “Sturz-Gefahr für Radler durch S21-Barrikaden”. “Es gab keine ‘lebensgefährliche Falle für Radfahrer’, da die Blockade von der Seite ‘Schillerstraße’ durch ein Absperrgitter und einen Pylonen gesichert war.”

2. “Die Textbausteine der Gewohnheitsheuchler”
(achinger.com, Till Achinger)
Stern.de: Die Empörung von Felix Disselhoff 2010 über Kommentare zum Amoklauf von Lörrach (BILDblog berichtetete) besteht aus ähnlichen Formulierungen wie die Empörung von Gerd Blank 2009 nach dem Amoklauf von Winnenden.

3. “Lörrach: Der publizistische Amoklauf der Exekutive”
(fastvoice.net, Wolfgang Messer)
Wolfgang Messer glaubt, dass es bei Staatsanwälten zunehmend in Mode ist, “sich durch übereilte und unnötig detaillierte Veröffentlichungen entweder als Behörde insgesamt bei den Medien beliebt zu machen oder einfach das individuelle Geltungs- und Ruhmesbedürfnis zu befriedigen.”

4. “Kickwelt-Flop der Woche: Mario Basler (BILD-Experte)”
(kickwelt.de)
Am 17. August 2010 glaubte Mario Basler, dass Shinji Kagawa in der Bundesliga weggeweht wird: “Der kleine Racker muss sich erst mal daran gewöhnen, dass Tauben im Ruhrpott keine Delikatesse sind. Und dass es in der Bundesliga immer schön auf die Stäbchen gibt…”. Der bei Borussia Dortmund unter Vertrag stehende japanische Fußballspieler erzielte bisher in vier Spielen drei Tore.

5. “ITV embarrassed by report of polar bear washed up on beach”
(telegraph.co.uk, Anita Singh, englisch)
Ein angeblilch in Bude (Cornwall) angeschwemmter Eisbär stellt sich bei näherer Inspektion als Kuh heraus. Zuvor hieß es: “The bear comes from the Arctic Circle and an investigation is under way as to how it could have ended up there.”

6. “Medien ohne Computer: ‘Schreiben war beschissen'”
(medienzeitmaschine.wordpress.com)
Die Medienzeitmaschine blickt auf die Arbeitsbedigungen von Medienmenschen in den 1980er-Jahren zurück.

BKA? Da könnte ja jeder bitten! (3)

Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht — es sei denn als Farce. Wie die nächste Wiederholungsstufe heißt, ist bisher noch nicht überliefert, aber mit der Bezeichnung “Bild” läge man vermutlich nicht allzu falsch.

Im August 2009 fahndete das Bundeskriminalamt mit Bildern nach einem Mann, dem mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde und der sich bei seinen Taten selbst gefilmt hatte. Nachdem der Mann sich selbst gestellt hatte, bat das BKA die deutschen Medien, die Fahndungsfotos nicht weiter zu verwenden. Die Medien kamen dieser Bitte mit unterschiedlichem Eifer nach (BILDblog berichtete), “Bild” und Bild.de erhielten für den wiederholten Abdruck der Bilder in Tateinheit mit der Bezeichnung des mutmaßlichen Täters als “Dreckschwein” gar eine “Missbilligung” vom Deutschen Presserat (BILDblog berichtete ebenfalls).

Knapp einen Monat später fahndete das BKA erneut über die Medien nach einem Mann, dem schwerer sexueller Missbrauch von Kindern sowie die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie zur Last gelegt wurde. Hier kam es zur erwarteten Farce, denn wie sich kurz nach der Verhaftung des Mannes herausstellte, war der Mann für seine Taten bereits 15 Jahre zuvor verurteilt worden und hatte seine Strafe abgesessen — was die Medien freilich nicht davon abhielt, die Fahndungsfotos, deren weitere Verwendung sich das BKA verbeten hatte, weiter zu verwenden (BILDblog berichtete auch hier).

Letzte Woche nun fahndete das BKA über die Fernsehsendung “Aktenzeichen XY … ungelöst” mal wieder nach einem Mann, der des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie der Verbreitung kinderpornografischer Schriften “dringend verdächtig” war. Zwei Tage nach der Ausstrahlung der Sendung wurde der Mann aus Bad Oeynhausen am Freitag festgenommen und das BKA schrieb in seine Pressemitteilung die inzwischen traditionelle Bitte:

Wichtig:
Da mit der Identifizierung der Grund für die Öffentlichkeitsfahndung entfällt, werden die Medien gebeten, die veröffentlichten Fotoaufnahmen nicht weiter zu verwenden und aus den Internetportalen zu entfernen.

Was jetzt passierte, ist vielleicht am Besten mit dem Begriff “Irrsinn” zu beschreiben, denn Bild.de kam der Bitte des BKA zunächst tatsächlich nach: Der ursprüngliche Fahndungsaufruf wurde durch einen Artikel über die Festnahme des Tatverdächtigen ersetzt, in dem kein einziges Foto zu sehen war. Dann muss jemandem bei Bild.de aufgefallen sein, dass man ja Bild.de ist.

Also erschien am Samstag ein neuer Artikel, in den die zehnteilige Bildergalerie mit den Fahndungsfotos eingebunden ist, deren weitere Veröffentlichung das BKA unterbinden wollte:

Geschnappt! Der dicke Kinderschänder, der zwei Mädchen missbrauchte.

“Bild am Sonntag” wiederum verzichtete auf einen Abdruck der Fahndungsfotos — und veröffentlichte stattdessen ein anderes, besser identifizierbares Foto des Verhafteten:

Nach XY-Sendung: Kinderschänder festgenommen

Ganz andere Bilder brachte “Bild” am Montag in ihrer Regionalausgabe:

Mieser Kinderschänder aus NRW! Verhaftung nach Aktenzeichen XY

Mit Dank an Lukas S., Sven S., Kaweh und AJ.

Der statistikfreie Raum

Die Zeiten sind schwer für deutsche Verlage: Nun kann die “Bild am Sonntag” nicht einmal mehr selbst Statistiken bis an die Schmerzgrenze fehlinterpretieren, sie muss diese wichtige Aufgabe auslagern.

In dieser Woche zum Beispiel an Stefan Müller, den Parlamentarischen Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Der Politiker räsoniert in einem Gast-Kommentar über den rechtsfreien Raum Internet, der insbesondere durch die Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung zum Tummelplatz für Schurken aller Art geworden sei:

Schuld daran ist eine Gesetzeslücke in Deutschland. Sie führt dazu, dass sich bestens ausgestattete und vernetzte Banden und organisierte Kriminalität im Internet breitgemacht haben. Folge: 200 000 Straftaten im vergangenen Jahr. Tendenz: rasant steigend.

Auf Anfrage bestätigte uns das Büro von Stefan Müller, dass der Politiker mit der “Gesetzeslücke” die Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesverfassungsgericht am 2. März dieses Jahres meinte. Wie die 200 000 Straftaten im Jahr 2009 die Folge eines Urteils von 2010 sein sollen — das konnte uns seine Sprecherin nicht verraten.

In der Tat zeigt die Statistik das Gegenteil der von Müller getätigten Aussage: Nachdem die Vorratsdatenspeicherung 2009 in Kraft getreten war, nahm die Zahl der registrierten Internet-Straftaten unverdrossen zu, die Aufklärungsquote sank hingegen.

Mit Dank an Jens W., Michael E. und Johannes R.

Nachtrag, 23. September: Im Nachgespräch legt das Büro von Stefan Müller Wert darauf, dass nicht die 200 000 Straftaten, sondern nur die steigende Tendenz “Folge” der Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung sei. Eine grammatikalisch bemerkenswerte Interpretation.

Doch auch die andere Zahl, auf die der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe seine Forderung nach Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung stützt, steht auf höchst wackliger Grundlage:

Seit das Bundesverfassungsgericht im März dieses Jahres entschieden hat, dass personenbezogene Daten aus Internettransfers gelöscht und nicht mehr auf Vorrat gespeichert werden dürfen, hat sich die Aufklärungsrate von Internetkriminalität dramatisch negativ entwickelt: Von 1000 Verdächtigen werden nur noch sieben Personen ermittelt. Das bedeutet: Von 1000 Kriminellen, die im Internet Benutzernamen und Passwörter abfischen, die E-Mail-Konten knacken und bei Online-Auktionen betrügen, die Bankkonten und Kreditkarten leer räumen und die Kinder vergewaltigen und entsprechende Filme im Internet anbieten, können nur sieben identifiziert werden.

Alleine: eine solche Statistik existiert offiziell nicht. Zwar zitierte die Rheinische Post den Präsidenten des Bundeskriminalamts Jörg Ziercke am 7. September so:

Nachhaltig ermahnte Ziercke die Politik, das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung anzupacken. Derzeit könne vieles nicht aufgeklärt werden. Unter 1000 Verdächtigen hätten vor dem Stopp der Speicherung mehr als 800 ermittelt werden können, jetzt seien es noch sieben.

Auf unsere Nachfrage hat das Bundeskriminalamt diese Formulierung dementiert: der BKA-Präsident habe in einer Pressekonferenz zwar ein Ermittlungsverfahren beschrieben, bei dem von 1100 IP-Adressen nur zehn nachverfolgt werden konnten und zu acht (sic!) Verdächtigen führten. Ein allgemeines Bild der Aufklärungsquote bei Internet-Straftaten spiegelt dieser Extremfall jedoch nicht wieder. Der Zusammenhang sei eventuell missverstanden worden, erklärt das Bundeskriminalamt.

Bild  

Die Rücksicht anderer Leute

Am Sonntagabend wurde in Bergkamen im Kreis Unna ein siebenjähriger Junge tot aufgefunden.

Irgendwie Weil die Familie des Jungen am Sonntag zunächst mit Flugblättern und im Internet nach ihm gesucht hatte, hatte es Bild.de mal wieder geschafft, an ein Foto des Jungen zu kommen, verzichtete aber gestern noch auf eine Nennung seines Namens und berichtete:

Eine Obduktion ergab jetzt, dass der Kleine eines natürlichen Todes gestorben ist. Offenbar hatte der Junge eine Vorerkrankung. Aus Rücksicht auf die Angehörigen gaben die Behörden keine weiteren Einzelheiten bekannt.

Wie “Bild” selbst Rücksicht auf die Angehörigen nimmt, macht die Zeitung heute in ihrer Ruhrgebietsausgabe deutlich, wo sie dem Tod des Jungen mehr als eine Viertelseite einräumt: “Bild” zeigt erneut sein Foto, nennt seinen Vornamen und spekuliert munter über die mögliche Todesursache (“War ein Kaugummi schuld, der in seinem Hals steckte?”).

kicker.de, sid  etc.

Jeder Schütze ein Treffer (2)

Was haben Jan Rosenthal (SC Freiburg), Pawel Pogrebnjak (VfB Stuttgart), Erwin Hoffer (1. FC Kaiserslautern), Marcel Risse (Mainz 05) und Luiz Gustavo (TSG 1899 Hoffenheim) gemeinsam?

Die Antwort: Sie alle waren für kurze Zeit oder sind der 3000. Torschütze der Bundesligageschichte:

 Da ist doch tatsächlich noch das 3000. Bundesligator und es hätte nicht zählen dürfen. Nicu steht bei Kopfballverlängerung von Cissé klar im Abseits. Er geht diagonal auf das Tor zu und passt dann überlegt nach rechts. Dort ist ROSENTHAL mitgelaufen und schiebt souverän ein.

Pogrebnyak macht die 3000 voll

Hoffer 3000. Torschütze der Bundesliga

Gustavo 3000. Torschütze der BundesligaRisse erzielt das Jubiläums-Tor

Aber beginnen wir von vorn:

Noch am Freitag wurde in den Live-Tickern der App iLiga 3.0, von Bild.de und anderen Medien der Freiburger Jan Rosenthal als Schütze des 3000. Bundesligatores gefeiert. Dort hieß es:

Da ist doch tatsächlich noch das 3000. Bundesligator (…) Nicu (…) geht diagonal auf das Tor zu und passt dann überlegt nach rechts. Dort ist ROSENTHAL mitgelaufen und schiebt souverän ein.

Das ist doppelt falsch. Denn es wurde ja nicht das 3000. Bundesligator gesucht (BILDblog berichtete) sondern der 3000. Torschütze. Außerdem ist Rosenthal einer der Kandidaten, der dafür überhaupt nicht in Frage kam, weil er sein erstes Tor bereits in der Saison 2006/07, damals noch für Hannover, erzielt hat.

Von gleichem Kaliber war ein Bericht, der am Samstag zwischenzeitlich auf kicker.de zu lesen war, und den Trainer Baade freundlicherweise für die Nachwelt konserviert hat. Der Stuttgarter Pawel Pogrebnjak machte demnach nicht nur “die 3000 voll”, sondern es war auch noch “das 3000. Tor der Bundesligageschichte”. Mal vom Unfug mit dem 3000. Bundesligator ab, hat Pogrebnjak genau wie Rosenthal schon längst sein erstes Bundesligator erzielt und war deshalb von vornherein nicht mehr im Rennen.

Um 16.54 Uhr verlieh der Sport-Informations-Dienst (sid) dann Erwin Hoffer vom 1. FC Kaiserslautern vorübergehend den Titel 3000. Torschütze der Bundesligageschichte. Die Überschrift der rund 30 Minuten später korrigierten Nachricht lässt sich etwa noch bei “Google News” und bei fußball.tv finden. Welt.de, “Frankfurter Neue Presse” und andere führen einem dpa-Bericht folgend Hoffer noch immer als Nummer 3000:

Für Neuling 1. FC Kaiserslautern wird der Betzenberg wieder zu einer Festung. Trotz eines Rückstandes trotzten die Pfälzer dem bisherigen Spitzenreiter aus Hoffenheim ein 2:2 ab. Erwin Hoffer (46./75. Minute), der als 3000. Torschütze in die Liga-Historie eingeht, drehte mit seinen beiden Toren die Partie.

Auf Hoffer ließ der sid um 17.21 Uhr den Hoffenheimer Luiz Gustavo, der bereits sieben Minuten vor Hoffer traf, folgen. Vielleicht wurde er zunächst übersehen, weil er schon seit 2007 für Hoffenheim spielt und deswegen eigentlich zu erwarten gewesen wäre, dass er bereits einige Tore auf dem Konto hatte. Die meisten Medien haben mittlerweile Gustavo als 3000. Torschützen übernommen.

Eigentlich könnte es das gewesen sein, wenn da nicht noch Marcel Risse wäre. Dieser wurde auf bundesliga.de, der offiziellen Website der Deutschen Fußball Liga (DFL), zum 3000. Torschützen erklärt:

Marcel Risse ist der 3000. Spieler, der in 47 Jahren Bundesliga ein Tor geschossen hat. Der Mainzer erzielte den Jubiläumstreffer am Samstag in der 53. Minute gegen den SV Werder Bremen zum zwischenzeitlichen 1:0.

Und auch bei der Nachberichterstattung im Pay-TV-Sender Sky wird Risse als 3000. Torschütze genannt, was Bild.de gleich zur “TV-Panne des Tages” erklärte:

Einziger Fehler: Der 3000. Torschütze ist Hoffenheims Luiz Gustavo (23)…

So einfach, wie Bild.de es sich macht, ist es – wer hätte das gedacht? – nicht.

Denn die DFL, die mit dem Statistikanbieter Opta Sport Daten AG zusammenarbeitet, hat uns bestätigt, dass ihrer Statistik zufolge nach wie vor Marcel Risse als 3000. Toschütze geführt wird. Als 2997. Schützen verzeichnen sie den Kölner Taner Yalçin, als 2998. Luiz Gustavo und als 2999. Erwin Hoffer.

Der sid wiederum, der mit dem Fußballdatendienstleister Impire AG zusammenarbeitet, beharrt gegenüber BILDblog darauf, dass ihrer Statistik zufolge Luiz Gustavo die Ehre gebührt, sich 3000. Torschütze nennen zu dürfen.

Allerdings wollen sowohl DFL als auch sid nicht ausschließen, dass die beiden Statistikanbieter in der Vergangenheit das eine oder andere unklare Tor einem anderen Spieler zugeschrieben oder als Eigentor gewertet haben als der jeweils andere. Somit gibt es jetzt tatsächlich zwei amtierende 3000. Torschützen, einen von sids und einen von DFLs Gnaden — wobei es ganz danach aussieht, als würde sich die Auffassung des sid durchsetzen.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Staatsanwälte, Sunshine, Retweets

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Amoklauf-Berichte: Und stündlich grüßt der Staatsanwalt”
(telemedicus.info, Adrian Schneider)
Der Amoklauf von Lörrach: Adrian Schneider erschreckt, “dass ausgerechnet die Staatsanwaltschaft als schnellste und zuverlässigste Quelle für die Details des Geschehens Spalier steht. Hat ein Oberstaatsanwalt in einer solchen Situation nicht Besseres zu tun, als so schnell und oft wie möglich Interviews zu geben? Sollten nicht gerade die Ermittlungsbehörden so kurz nach der Tat zurückhaltend mit Einzelheiten sein?”

2. “Warum der Journalismus überleben muss”
(medienheft.ch, Roman Berger)
Roman Berger stellt in einem langen, grundsätzlichen Text fest, dass sich im Newsgeschäft mit den Gratismedien die Rollen vertauscht haben: “Der Leser, der User, der sich bisher als Kunde sah, ist Ware geworden. Kunde ist derjenige, der die Werbung schaltet.”

3. Interview mit Claudia Mast
(fr-online.de, Ulrike Simon)
Für Kommunikationswissenschaftlerin Claudia Mast ist das Streben nach Exklusivität zweischneidig. Wenn eine Schein-Exklusivität produziert werde, “wenn Details, Nebensächlichkeiten oder vermeintliche Widersprüche mit dem Vergrößerungsglas betrachtet und ‘hochgezogen’ werden, kostet diese Aufgeregtheit der Berichterstattung langfristig die Reputation der Zeitungen.”

4. “Geistige Gemeingüter”
(graubrotblog.de, Björn Grau)
Björn Grau philosophiert über Retweets: “Wenn die Textrecycler nett sind, machen sie Quellenangaben beim Weiterverwenden. Und dann kann es ihnen doch gehen wie mir heute am Vormittag. Sie treffen auf automatisierte und humanoide Recycler recycleter Texte, die warum auch immer diese Nettigkeit nicht mehr bis ins x-te Glied zurück bedienen und werden auf einmal zu Autoren, die sie nicht sind und Plagiatoren, die sie nicht sein wollen.”

5. “Wenn der Sonnenschein das Hirn verbrutzelt”
(technoarm.de, Martin Böttcher)
Martin Böttcher testet zwei Tage lang Radio Sunshine Live: “Der Sender hat etwas Gekünsteltes, ‘Fakes’ an sich. Noch mal: Muss elektronische Musik so verkauft werden, als stamme sie von Gehirnamputierten für Gehirnamputierte?”

6. Warnhinweise für Journalismus
(ihrwebprofi.at, Robert Harm)
Robert Harm hat die als Aufkleber ausdruckbaren “Journalism Warning Labels” auf Deutsch übersetzt.

Ausgebildet und sensibel

Felix Disselhoff ist erschüttert:

Nach dem Amoklauf in Lörrach wettern Deutschlands User auf Twitter gegen die Sinnlosigkeit von Killerspielverboten. Ohne Rücksicht auf die Opfer der Tragödie.

“Zynisch” habe sich “das Web” “gegeben”, “Futter für Häme” habe die Biographie der Amokläuferin “geliefert”, “Häme” habe auch den CDU-Politiker Wolfgang Bosbach “getroffen”, einen “sarkastischen Unterton” glaubt Disselhoff erkannt zu haben.

In welche Kategorie sein eigener Text fällt, lässt der Autor offen:

Das Problem ist wie so oft nicht die Nachricht, sondern wie mit ihr umgegangen wird. Während ausgebildete Journalisten darin geschult sind, sensibel mit Daten von Personen umzugehen und Fakten zu recherchieren, steht hingegen bei Twitter die Meinung schnell fest. Der Pressekodex gilt nun einmal nur für die Presse. Und nicht für ein Medium, welches von vielen fälschlicherweise als die Zukunft des Journalismus betrachtet wird.

Erschienen ist Disselhoffs Text bei stern.de, dem Internetportal jener Zeitschrift, deren ausgebildete Journalisten sich nach dem Amoklauf von Winnenden im vergangenen Jahr geweigert hatten, die Herkunft der von ihnen veröffentlichten Privatfotos der Opfer zu erklären, und die derart sensibel mit Daten von Personen umgegangen waren und Fakten recherchiert hatten, dass sie das Foto eines Unbeteiligten als Porträt des Täters ausgaben.

Mit Dank an Steffen, Tino M. und Merrick.

Verhinderung ungeschehener Vorkommnisse

Auf der Titelseite der “Rheinischen Post” prangte am Samstag diese Schlagzeile:

Anschlag auf Papst vereitelt

Und auch bei der “Berliner Morgenpost” nahm ein Bericht mit ähnlicher Schlagzeile einen guten Teil der Titelseite ein:

Polizei verhindert Anschlag bei Papst-Besuch

Der “Daily Express” titelte übrigens “Muslim Plot To Kill Pope” — und korrigierte diese Schlagzeile heute in wenigen Zeilen auf Seite 9.

Denn tatsächlich passiert ist gar nichts: Es wurden lediglich sechs Männer verhaftet und dann wieder freigelassen, wie die Metropolitan Police in London gestern Sonntag vermeldete:

Sechs Männer, die aufgrund des Terrorism Act 2000 am Freitag, 17. September, festgenommen wurden, wurden am späten Samstagabend (18. September) und heute früh (Sonntag, 19. September) alle ohne Anklage freigelassen.

(Übersetzung und Link von uns.)

Es kann also weder von einem Anschlag, noch ernsthaft von der Verhinderung oder Vereitelung eines Anschlags gesprochen werden. Es brachte die “Berliner Morgenpost” allerdings dazu, sich heute (indirekt) über die eigene Berichterstattung zu beklagen:

Die sechs Straßenkehrer, deren Festnahme am Freitag fast ein Viertel der Berichterstattung über diese historische Reise erobert hatte, waren da schon wieder auf freiem Fuß und in den Straßen Londons unterwegs. Die überempfindlichen Antennen und Scanner von Scotland Yard hatten bei ihnen offenbar etwas zu fein reagiert.

Aber natürlich! Unschuldig Verhaftete “erobern” mit ihrer Festnahme die Berichterstattung und zwingen die Journalisten der “Berliner Morgenpost” sozusagen dazu, ihnen Platz auf der Titelseite einzuräumen! Vielleicht werden sie wenigstens dafür bestraft.

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