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Tempelhofer Feld: Jede Verstimme zählt!

Mit Volksentscheiden in Berlin hat die “Bild”-Zeitung schlechte Erfahrungen gemacht: die Leute wollten partout nicht so wählen, wie es die Zeitung wollte.

Trotzdem findet am kommenden Sonntag schon wieder einer statt. Es geht um die Zukunft des alten Tempelhofer Flughafengeländes. Es gibt zwei Gesetzesvorschläge. Eine Bürgerinitiative fordert, das Feld komplett frei zu halten. Der rot-schwarze Senat will es an den Rändern bebauen lassen.

Viel komplizierter ist die Sache eigentlich nicht.

Aus den Formulierungen auf den Stimmzetteln geht der Unterschied zwischen den beiden widersprüchlichen Vorschlägen leider nicht ganz so klar hervor, weshalb es prinzipiell eine gute Idee ist, dass die “Bild”-Zeitung ihren Lesern heute erklären wollte, worüber sie eigentlich abstimmen.

Es hätte bloß geholfen, wenn der Mensch in der Redaktion, der damit beauftragt wurde, es selbst verstanden hätte. Oder in der Lage gewesen wäre, es so aufzuschreiben, dass …

Aber lesen Sie selbst:

DARÜBER STIMMEN SIE AB

Jeder stimmberechtigte Berliner bekommt am Sonntag zur Europa-Wahl auch einen Zettel für das Tempelhofer Feld.

Abgestimmt werden darf über zwei gegensätzliche Anliegen:

Abstimmungsfrage 1: Das Feld soll mit nichts und nie bebaut werden - an keiner Stelle. Beziehungsweise: Es können an den äußersten Rändern im Westen, Süden und Osten unter anderem Wohnungen, Kitas, Schulen und eine große Bibliothek entstehen.

Abstimmungsfrage 2: Der Großteil, nämlich 230 Hektar der insgesamt 300 Hektar, bleibt trotzdem Freifläche. Auch der Nordosten wir nicht bebaut.

Frage 1 und 2 schließen sich also aus. Trotzdem kann jeder auch beim 'Gegner' ankreuzen.

Nicht nur, um seine eigene Wahl nochmals abzusichern. Sondern auch für taktische Überlegungen. Denn theoretisch könnte es ja das Bürger-Anliegen geben, das ganze Feld für Wohnungen freizugeben. 

Oder den Wunsch, die Zukunft des Feldes möge doch bitte wieder in die Hände des Abgeordnetenhauses gelegt werden.

Noch Fragen?

1 Grund, nicht für Tempelhof zu stimmen

Dafür muss man sie dann doch bewundern: dass den Leuten von “Bild” nach Monaten fast täglicher, gelegentlich seitenfüllender Propaganda für den Erhalt des Flughafens Tempelhof immer noch etwas neues einfällt. Heute überrascht “Bild”-Berlin-Kolumnist Reimer Claussen mit der Analyse:

Wer Tempelhof schließt, frisst auch kleine Kinder

Halt, nicht ganz:

Wer Tempelhof schließt, würde auch das Stadtschloss noch einmal sprengen

Claussens “Argumentation” geht so:

(…) Wir haben in unserer Stadt einige Baudenkmäler, die den jeweiligen wechselnden Herrschern nicht unbedingt gefallen oder nicht in ihr politisches Konzept gepasst haben. Etwa die alten katholischen Kirchen, die manchem protestantischen König ein Dorn im Auge waren — aber es hat sich im alten Preußen durchgesetzt, die Gebetshäuser anderer zu tolerieren, sogar neue zuzulassen. (…)

Die St. Hedwigs- Kathedrale dürfen wir auch aus anderen Gründen heute noch bewundern: Weil es selbst in der DDR Entscheider gab, die gegen das sozialistische Prinzip solche Bauten verteidigten, sie sogar wieder aufbauten. Dazu gehört auch die Staatsoper Unter den Linden, die ein Prachtbau der preußischen Monarchen war — aus Sicht der SED-Diktatoren eigentlich ein Repräsentationsbau des verfemten Ex-Regimes wie das Stadtschloss, das ausradiert gehört.

Aber selbst diese Leute hatten ein Gespür dafür, dass man eine lebendige Geschichte braucht. Und dass man die maßgeblichen baulichen Faktoren einer Stadt nicht abreißen oder entfremden darf, weil man sonst der Stadt ein Stück ihrer gelebten Identität raubt. (…)

Das ist in seiner Perfidie schon geschickt, wie Claussen es schafft, über zig Zeilen vom Abriss von Gebäuden zu sprechen — und an der entscheidenden Stelle unauffällig “abreißen oder entfremden” zu schreiben. Denn niemand will den (unter Denkmalschutz stehenden) Flughafen Tempelhof abreißen. Es geht in dem Volksentscheid am kommenden Sonntag [pdf] allein um die Frage, ob er weiter als Flughafen genutzt werden soll.

Es ist leicht, das misszuverstehen — und die “Bild”-Zeitung tut im Kampf gegen die Schließung des Flughafens, dem sich die ganze Axel-Springer-AG verschrieben hat [pdf], alles dafür, dieses Missverständnis zu befördern. Am Dienstag bereits hatte “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner entsprechend an den Regierenden Bürgermeister geschrieben:

Wenn Sie Tempelhof schließen, dann wird Berlin wie das Gesicht einer Frau nach dem Facelifting sein. (…)

Es soll also nur noch Fotos geben von der Geschichte dieser Stadt.

Und in der ganzseitigen “Bild”-Übersicht “100 Gründe für den Flughafen der Herzen” findet sich sogar als Grund 76:

"Der zweite Teil des Luftbrücken-Denkmals in Frankfurt/M. würde ohne Tempelhof ziemlich einsam an der Autobahn stehen."

— als wolle Wowereit, der geschichtsvergessene Banause, nicht nur das Flughafen-Gebäude, sondern sogar das davorstehende Denkmal sprengen.

Andererseits: Wenn sich am Sonntag in Berlin wider Erwarten nicht die notwendige Mehrheit finden sollte, die sich unverbindlich für eine Fortsetzung des Flugbetriebes ausspricht, könnte das auch an “Bild” und diesen 100 Gründen diesen 100 Gründen gelegen haben. Die machen nämlich schon beim flüchtigen Blick den Eindruck, dass die Zahl der guten Argumente pro Tempelhof überschaubar sein könnte:

Es ist eine — selbst für “Bild”- und Springer-Verhältnisse — erstaunliche Massivität und Parteilichkeit, mit der die Zeitungen des Konzerns versuchen, die Berliner dazu zu bringen, beim Volksentscheid mit Ja zu stimmen. Außer der “Bild”-Titelgeschichte (!) mit den “100 Gründen” sah das allein in dieser Woche so aus:

BILDblog berichtete:

Das Wort “einseitig” ist fast ein Understatement, um die Absolutheit zu beschreiben, mit der die “Bild”-Zeitung jeden Widerspruch, jede unpassende Tatsache von ihren Seiten fernhält. Sie versucht in aller Regel nicht, die Argumente der Gegenseite zu entkräften oder zu entwerten; sie erwähnt sie sicherheitshalber gar nicht.

Die Information etwa, dass der Betrieb des Flughafens Tempelhof jährlich über zehn Millionen Euro Verlust macht (von denen die meisten der Steuerzahler tragen muss), scheint zuletzt 2003 im Blatt gestanden zu haben. Dass aktuell täglich nicht einmal 1000 Passagiere täglich den Flughafen nutzen, würde ein “Bild”-Leser nicht ahnen. Frühere “Bild”-Artikel, in denen es um Anwohner ging, die unter dem Fluglärm leiden, sind heute undenkbar (siehe Ausriss). Und während jeder vermeintliche “Umfaller” unter den Flughafen-Gegnern in der SPD oder Linke wortreich begleitet wird, scheint die “Bild”-Zeitung vergessen zu haben, dass die CDU, mit der sie sich heute gemeinsam als Tempelhof-Retter zu profilieren versucht, die Schließung selbst mitbeschlossen hat.

Nachtrag, 27.4.2008: Gestern gab die “Bild”-Zeitung in ihrer Berlin-Brandenburg-Ausgabe noch einmal alles:


Und in der heutigen “Bild am Sonntag” teilte auch Kolumnist Peter Hahne den “BamS”-Lesern mit, dass er heute “für den Erhalt des Flughafens” stimmen werde.

Der Kreuzzug der Tempelhofritter

Als der amerikanische Schauspieler Willem Dafoe Mitte Januar auf dem Flughafen Tempelhof erste Szenen des Filmes “Dust of Time” drehte, war das für “Bild” ein wichtiges Signal. Laut Drehbuch war der Berliner Flughafen Tegel wegen einer Bombendrohung gesperrt, weshalb alle Flugzeuge nach Tempelhof umgeleitet werden mussten. “Berlin, Tempelwood!”, juchzte “Bild” und sah in dem Film “ein deutliches Zeichen im Kino — so wichtig ist der Flughafen für Berlin!”

Man muss sie halt nur sehen wollen, die Zeichen, die gegen eine Schließung des Flughafens sprechen. “Bild” sucht und findet sie überall, fast täglich. Seit Monaten kämpft “Bild” Hand in Hand mit einer Interessensgemeinschaft für den Erhalt des Flughafens und ein entsprechendes Volksbegehren — in einer Massivität und Einseitigkeit, die ihresgleichen sucht:

“Bild” über Tempelhof (repräsentative Auswahl)

“Bild”, 5.1.
(…) jetzt soll das ganze Areal sogar Weltkulturerbe werden!
(…) Und: Flugbetrieb wäre auf dem “Weltkulturerbe Tempelhof” selbstverständlich erlaubt…

“Bild”, 7.1.
5 Promi-Liebeserklärungen an Tempelhof: Diese berühmten Berliner rufen zum Erhalt des Flughafens auf.

“Bild”, 8.1.
Film-Star Flughafen Tempelhof.
Fünf Jahrzehnte nutzte die Traum-Fabrik Hollywood den City-Airport für internationale Film-Produktionen, drehte in den historischen Gebäuden und auf dem angrenzenden Flugfeld.
Stars und Sternchen liebten den City-Airport. (…) Und als Kulisse bot Tempelhof nicht nur die geforderten Sicherheitsmaßnahmen, sondern auch die Nähe zu den Luxus-Hotels der Schauspieler an der Spree.
BILD zeigt die schönsten Set-Fotos. In der Hauptrolle: Tempelhof!

“Bild”, 12.1.
Über Tempelhof geht die Sonne auf! Auf dem Dach des Airports soll das größte Solar-Kraftwerk Europas installiert werden: 50 000 Quadratmeter Solarzellen (entspricht 7 Fußballfeldern), denn der Flughafen ist das drittgrößte Gebäude der Welt! (…) Potenzielle Weiterbetreiber des Airports sind von dem Plan begeistert, der Flugverkehr könnte problemlos fortgesetzt werden.

“Bild”, 15.1.
[Beim Neujahrsempfang der Axel Springer AG] kritisierte der Springer-Vorstandschef [Mathias Döpfner] den Senat: “Ausgerechnet im Jubiläumsjahr der Luftbrücke soll der Flughafen Tempelhof endgültig geschlossen werden. Ich kann und will das immer noch nicht glauben. (…) Herr Regierender Bürgermeister Wowereit, ich bitte Sie, nehmen Sie den Willen der Berliner ernst. Berlin braucht Tempelhof. Berlin will Tempelhof. Herr Bürgermeister, ich bitte Sie, hören Sie auf diese Stadt!”

“Bild”, 19.1.
Endspurt beim Volksbegehren für den Flughafen Tempelhof!

“Bild”, 19.1.
Knut Henne (70) hat Kerosin im Blut — bis 1993 war der Ingenieur Chef von Tempelhof, Tegel, Schönefeld. In BILD nennt der frühere Flughafendirektor drei Gründe, warum sein Herz für den City-Airport schlägt.

“Bild”, 19.1.
Hollywood-Star Willem Dafoe (52, “Inside Man”) drehte auf dem Flughafen Tempelhof gestern erste Szenen von “Dust of Time” (Staub der Zeit). (…)
Ein deutliches Zeichen im Kino — so wichtig ist der Flughafen für Berlin!

“Bild”, 22.1.
Hier landeten so viele Weltstars wie auf keinem anderen Flughafen Deutschlands. Der Airport Tempelhof — über Jahrzehnte der Laufsteg der Prominenten, die Visitenkarte der Weltstadt Berlin.
Die Legende Tempelhof soll jetzt sterben. Gegen den Willen der Berliner und vieler seiner Parteifreunde hat Klaus Wowereit die Schließung beschlossen. Aber es bleibt eine Chance: das Volksbegehren, das bis zum 14. Februar läuft.
BILD zeigt heute Stars aus Film, Musik und Politik, die Tempelhof liebten. Schwelgen Sie in Erinnerungen — und gehen Sie dann ins Bürgeramt, um für Tempelhof zu unterschreiben!

“Bild”, 26.1.
Diese Landung wird butterweich.
Wenn es nach den Berlinern geht, haben sie ihren Flughafen Tempelhof schon so gut wie gerettet!

“Bild”, 28.1.
Und da sage noch einer, der von der Schließung bedrohte City-Airport Tempelhof wäre aus der Mode…!
Tosender Applaus gestern Abend für Kapitän “HUGO” und seine Model-Crew! Der Auftakt der Berliner Fashion Week wurde zum Überflieger. Denn die Designer-Firma “Hugo Boss” hatte den Flughafen als Location für ihre Show ausgewählt. (…)
Auch die Stars flogen auf Tempelhof!

“Bild”, 31.1.
Geschafft! 174 334 sagen Ja zu Tempelhof

“Bild”, 1.2.
Gewinner
Friedbert Pflüger (52) CDU-Fraktionschef in Berlin, war einer der Ersten, die sich in die Liste für das Volksbegehren zur Rettung des Berliner Flughafens Tempelhof eintrugen. Fortan stellte sich Pflüger in die erste Reihe der Tempelhof-Retter. Dass nun genügend Unterschriften für das Zustandekommen eines Volksentscheides im Sommer vorliegen, ist auch sein Verdienst.:
Bild meint: Überflieger!

“Bild”, 1.2.
Jetzt kann Tempelhof durchstarten! Liebe Tempelhof-Freunde! Wir haben die vorgegebene Flughöhe von 174 334 Stimmen erreicht. aber Bitte BLEIBEN sie noch ein bisschen angeschnallt…

“Bild”, 5.2.
Der Chef des erfolgreichen City-Airports London wütet über Pläne in Berlin, unseren Innenstadt-Flughafen Tempelhof zu schließen

“Bild”, 7.2.
Das wird eine Party, auf der Sie unbedingt landen sollten!
Am Samstag feiert Berlin Tempelhof: Von 10 Uhr bis 23 Uhr lädt die Interessengemeinschaft ICAT alle Berliner ins Airport-Restaurant “Airbase 1” zur 2. Dankeschön-Party ein.

“Bild”, 7.2.
City-Airport Tempelhof — um diesen Flughafen beneiden viele Weltstädte Berlin. Und: Immer mehr Unternehmer und Flugexperten sind überzeugt vom wirtschaftlichen Erfolg.

“Bild”, 8.2.
Eben immer zur Stelle, diese Jungs, wenn man sie braucht!
Gestern kamen rund 100 Handwerker ins Schöneberger Rathaus und unterschrieben für den Erhalt des Traditionsflughafens Tempelhof!

“Bild”, 9.2.
Feiern Sie heute Tempelhof! Dankeschön-Party zum Volksbegehren. Und wer noch nicht für den Airport abgestimmt hat: Am Wochenende geht’s auch!

“Bild”, 11.2.
Tempelhof startet mit voller Kraft durch! Drei Tage vor dem Ende des Volksbegehrens haben schon mehr als 200 000 Berliner für den Erhalt des City-Flughafens Tempelhof gestimmt!

“Bild”, 22.2.
Berlin trägt jetzt Tempelhof am Arm!
Tragen Sie es auch schon? Das rote Bändchen der Tempelhof-Freunde!
Bereits 5000 Stück der coolen Gummi-Armreifen mit der Aufschrift “Tempelhof: JA!” wurden seit der Berlinale in der Stadt verteilt.

“Bild”, 18.3.
Dieser Mann glaubt an Berlin — und deshalb kämpft er für Tempelhof! US-Investor Ronald S. Lauder (64) warnt sechs Wochen vor dem Volksentscheid: “Wenn der Flughafen schließt, gewinnt Wowereit — aber Berlin verliert!”

In den nächsten Wochen wird die Intensität dieser Kampagne sicherlich noch zunehmen, denn Ende April können die Berliner nun in einem Volksentscheid abstimmen, ob der Flughafen erhalten bleiben soll oder nicht. Ein eindrucksvolles Zeugnis darüber, mit welcher Seriösität die “Bild”-Zeitung sich in diesen Wahlkampf stürzt, hat sie heute bereits abgeliefert. In gewaltiger Aufmachung schreibt sie unter der Überschrift “TEMPELHOF: So sollen die Berliner den City-Airport retten”:

Am 27. April haben 2,43 Millionen Berliner die Wahl. Soll unser City-Flughafen Tempelhof geöffnet bleiben? Rund 606.000 Ja-Stimmen sind erforderlich.

Heute wird eine amtliche Information veröffentlicht, in der die Berliner die Argumente von Tempelhof-Freunden, Senat und Abgeordnetenhaus nachlesen können.

BILD bringt Auszüge:

Klingt gut und fair, und es stimmt: Die amtliche Information enthält drei Stellungnahmen, je eine vom Senat, dem Abgeordnetenhaus und der Interessensgemeinschaft. Und soviel Platz räumt “Bild” ihnen in dem Artikel ein:

Senat (Flughafen-Gegner): 0 Zeilen
Abgeordnetenhaus (Flughafen-Gegner): 0 Zeilen
Interessensgemeinschaft (Flughafen-Befürworter): 118 Zeilen

 
“Bild” traut sich nicht, auch nur ein einziges Argument der Flughafen-Gegner zu erwähnen, und erweckt sogar den Eindruck, als bestehe die ganze “amtliche Information” nur aus Gründen, warum und wie “die Berliner den City-Airport retten sollen”. Die Vollständigkeit, mit der “Bild” die unliebsamen Gegenargumente ausblendet, hat etwas vom “Neuen Deutschland” in der DDR.

Entweder ist das Vertrauen in die Überzeugungskraft der eigenen Position nicht sehr groß. Oder “Bild” kann einfach nicht anders.

Absurde Verschwendung, Hotspot nicht in Neukölln, Kritik an Razzia

1. 1,4 Millionen Euro für Rechtsberater zur Aufklärung der Schlesinger-Affäre
(rbb24.de, Gabi Probst)
Weil dem öffentlich-rechtlichen RBB Verschwendung von Gebührengeldern vorgeworfen wird, hat der Sender 31 Anwälte von vier Rechtsanwaltskanzleien mit der Aufklärung der Verschwendungsvorwürfe beauftragt, was bislang über 1,4 Millionen Euro an Honoraren gekostet habe. Nun hätten sich mehrere Rechtsexperten die Rechnungen angeschaut und den Vorgang mit “absurd und nicht nachvollziehbar” zusammengefasst.

2. Korrigierte Zahlen zeigen: Hotspot der Gewalt nicht in Neukölln
(migazin.de, Rosa Fava)
In vielen Medien war vom Berliner Stadtteil Neukölln als Hotspot der Silvesterkrawalle zu lesen und zu hören. Wie sich nach Auswertung der Zahlen zeige, habe es in anderen Berliner Stadtteilen allerdings viel mehr Fälle von “Widerstand und tätlichen Angriffen gegen Einsatzkräfte” gegeben, etwa in Mitte und Tempelhof-Schöneberg. Rosa Fava fragt: “Wo bleiben jetzt die Richtigstellungen und Entschuldigungen? Welche Sendeanstalt, welches Portal, welches Medienunternehmen korrigiert seine Schlagzeilen der ersten Woche? Wo sind Kommentator:innen und Moderator:innen, die sich für ihre Schnellschüsse entschuldigen? Welche Expert:innen erklären, dass sie auf Grundlage von quasi null gesicherten Informationen und den immerselben Bildern einfach nur Standardsprüche über Menschen mit Migrationshintergrund in segregierten Stadtteilen von sich gegeben haben?”

3. Scharfe Kritik an Razzia bei Freiburger Radiosender
(netzpolitik.org, Daniel Leisegang)
Die Polizei Freiburg hat gestern im Auftrag der Staatsanwaltschaft Karlsruhe den Freiburger Radiosender Radio Dreyeckland sowie zwei Privatwohnungen durchsucht. Anlass sei, dass der Sender in einem Artikel einen Link auf das Archiv von linksunten.indymedia.org gesetzt hatte. Hintergrund: Die Internetseite war 2017 vom Bundesinnenministerium verboten worden, da sie “nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufe” und sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richte. Dies war seinerzeit vielfach kritisiert worden. So nun auch das aktuelle Geschehen: Bürgerrechtsorganisationen und Journalistenverbände bezeichnen die Maßnahme von Polizei und Staatsanwaltschaft als “tiefgreifenden Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit”.

Bildblog unterstuetzen

4. Auslandsjournalismus in der Krise: Was muss sich aus Sicht von Nachwuchsreportern ändern?
(riffreporter.de, Christina Schott)
Bei den “Riffreportern” erzählen Nachwuchsjournalistin Clara Gehrunger und Nachwuchsjournalist Jamil Zegrer, warum sie trotz verschiedener Hürden aus dem Ausland berichten wollen, was sich aus ihrer Sicht im Auslandsjournalismus ändern müsste und wo sie sich in zehn Jahren selbst sehen.

5. Wie Medien über Afrika berichten
(deutschlandfunk.de, Anh Tran & Isabelle Klein, Audio: 7:18 Minuten)
Die Hilfsorganisation Care hat erneut ihre Analyse zu vergessenen humanitären Krisen veröffentlicht (PDF), und die sind offenbar vor allem auf dem afrikanischen Kontinent zu finden: Unter den insgesamt zehn Ländern sind erstmals ausschließlich afrikanische aufgeführt. Die freie Journalistin Bettina Rühl, die aus Nairobi berichtet, ist nicht überrascht.

6. Sind die sozialen Medien noch zu retten?
(zeit.de, Christian Stöcker & Julia Ebner & Christian Montag)
Sind die großen Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter schlecht für Menschen und Gesellschaft? Oder lassen sie sich zu einem besseren Ort machen? Die “Zeit” hat drei Experten und Expertinnen um Einschätzung gebeten: den Kognitionspsychologen und “Spiegel”-Kolumnisten Christian Stöcker, die österreichische Investigativjournalistin, Autorin und Politikberaterin Julia Ebner sowie den Psychologen, Wissenschaftler und Autor Christian Montag.

Umstrittener NZZ-Kommentar, Wehrt Euch, Korrumpiert der “Tatort”?

1. Foulen im Kampf gegen grüne “Mainstream-Medien”
(uebermedien.de, Stefan Fries)
Vor ein paar Tagen veröffentlichte die “NZZ” einen Gastkommentar des ehemaligen Chefredakteurs der “Heilbronner Stimme”, Wolfgang Bok. Überschrift und Hypothese des Beitrags: “Grün ist die Redaktion — die deutschen Mainstream-Medien haben aus der Flüchtlingskrise nichts gelernt.” Nachdem Stefan Fries auf Twitter zunächst mit einem kurzen Thread reagiert hatte (“An dem Artikel ist so viel falsch, da weiß man gar nicht, wo man anfangen soll.”), erklärt er nun auf “Übermedien”, wie der Autor des Textes mit “falschen Zitaten, Dekontextualisierung, falschen Interpretationen wissenschaftlicher Daten und Unkenntnis der Sachverhalte” arbeitet.
Weiterer Lesetipp: Anmerkungen zum NZZ-Kommentar: “Grün ist die Redaktion” (flurfunk-dresden.de, Peter Stawowy).

2. Gekaufte Wahrheiten
(sueddeutsche.de, Adrian Lobe)
Immer wieder ist Wikipedia das Ziel von Schleichwerbern, Faktenverdrehern und Schummlern (bekannte Fälle: die eingeschmuggelten Werbefotos des Outdoor-Ausrüsters North Face und die fragwürdigen Interventionen des Wikipedia-Users “Verlagsleitung BILD Gruppe”). Adrian Lobe erzählt von den “gekauften Wahrheiten”, den Auftraggebern und der Schwierigkeit, sich der Manipulationen zu erwehren.

3. Lokaljournalismus per Newsletter
(deutschlandfunk.de, Vera Linß, Audio: 5:27 Minuten)
Berlin ist in zwölf Stadtbezirke unterteilt, von denen jeder mehr Einwohner hat als manch andere Stadt insgesamt. Weil man nicht jeden der Bezirke mit einer eigenen Regionalzeitung versorgen kann, ist der “Tagesspiegel” auf eine clevere Idee gekommen: maßgeschneiderte Regional-Newsletter. Vera Linß hat mit den Machern der werbefinanzierten Bezirksnewsletter gesprochen. Das Format lebt auch von der Beteiligung der Leserinnen und Leser: “Was auch sehr gut funktioniert ist, dass wir dann auf die Leser zugehen und fragen: Was halten Sie eigentlich von der Randbebauung am Tempelhofer Feld? Und dann hab ich das in einem Newsletter geschrieben, den ich selber geschrieben habe. Es kamen, sobald ich sie rausgeschickt habe, im Fünf-Minuten-Takt Antworten von den Lesern.”

4. Wie man sich gegen Hass und Hetze wehrt
(spiegel.de, Jörg Breithut)
Wer im Netz mit Beleidigung, Nötigung und Volksverhetzung konfrontiert wird, kann sich dagegen rechtlich wehren. Doch wie geht man am besten vor? Jörg Breithut hat die wichtigen Schritte zusammengefasst. Dabei geht es auch um eine gute Dokumentation zur Beweissicherung.

5. Zu niedrige Zahlen über rechte Gewalt
(tagesschau.de, Patrick Gensing)
Man fragt sich, wie Nachrichtenagenturen wie AFP und epd oder die “Tagesschau” überhaupt auf die Idee kommen, “Bild am Sonntag” als Quelle in Erwägung zu ziehen. Wenn sie es denn schon tun, sollten sie jedoch zumindest den Wahrheitsgehalt überprüfen. Wie zum Beispiel beim jüngsten Fall, in dem die Zahlen rechtsextremer Gewalttaten zu niedrig angegeben wurden.

6. Korrumpiert der “Tatort” das Rechtsempfinden?
(zeit.de, Stephanie Alvarez & Hella Kemper & Anna-Lena Oltersdorf & Max Rauner, Audio: 24:00 Minuten)
Im “Zeit”-Podcast “Woher weißt Du das?” geht es im ersten Teil um die regelmäßig zu beobachtenden Gesetzesverstöße von TV-Kommissaren, Ermittlern und Rechtsmedizinern, so zum Beispiel im berühmten Münsteraner “Tatort”. Ein Drehbuchautor, eine Kommunikationswissenschaftlerin und ein Kriminalpolizist erklären, wie es dazu kommt und worauf besser geachtet werden sollte.

Julian Reichelt erklärt Deutschland zum reichsten Land der Welt

Hätte Julian Reichelt nicht diese große Macht, wäre seine Show ja eigentlich ganz amüsant. Hier mal populistisch poltern, da mal Fakten komplett falsch darstellen, zwischendurch mittelmäßige Witze. Man muss sich das aber immer wieder klarmachen: Reichelt hat das letzte Sagen bei Bild.de, wo er selbst Chefredakteur ist, bei der “Bild”-Zeitung, bei “Bild am Sonntag” und bei der “B.Z.”, wo er den Chefredakteurinnen Tanit Koch, Marion Horn und Miriam Krekel noch mal vorgesetzt ist. Und wenn man das realisiert hat, ist zum Beispiel seine Faktenfremdheit alles andere als amüsant.

Am Samstag hatte Julian Reichelt zum Aus von “Air Berlin” und dem großen Spektakel um den letzten Berlin-Flug der Airline mal wieder so viele Gedanken, dass sie nur in zwei Tweets passten:

Screenshot eines Tweets von Julian Reichelt - Irgendwie symptomatisch, dass sich in Berlin solch spektakuläre Momente aufgrund einer Pleite zutragen. Tempelhof zu, BER eine Bauruine, Airberlin bankrott. Die Hauptstadt des reichsten Landes der Welt hat es geschafft, sich bei der Luftfahrt zu deindustrialisieren.

Irgendwie symptomatisch, dass sich da gleich mehrere Fragen stellen.

Zum Beispiel: Was hat der Bankrott von “Air Berlin” mit einer Deindustrialisierung der Luftfahrt zu tun?

Wir würden sagen: nichts, es handelt sich schließlich nicht um Industrie, sondern um ein Dienstleistungsunternehmen.

Und seit wann ist Deutschland das “reichste Land der Welt”?

Es gibt eine Reihe verschiedener Möglichkeit, den Reichtum eines Landes zu messen. Nach dem nominalen Bruttoinlandsprodukt liegen die USA auf Platz eins, nach dem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt ist es China, beim nominalen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt Luxemburg vorn, beim kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist es Katar, beim Privatvermögen sind es laut “Allianz”-Studie dann wieder mal die USA, laut “Credit Suisse” die Schweizer, und beim Wohlstandsindex einer Denkfabrik liegt Neuseeland ganz vorne. Deutschland ist zwar oft weit oben mit dabei, aber nie “das reichste Land der Welt”, wie Julian Reichelt behauptet.

Dass ein “Vorsitzender der Chefredaktionen” seinen Mitarbeitern ein solches Desinteresse an korrekten Fakten vorlebt, ist wirklich alles andere als amüsant.

B.Z., Bild  

“Bild” und “B.Z.” legen Grünen-Politikerin falsches Zitat in den Mund

Rummms!

Mit dieser Haudrauf-Interjektion zeigt die “Bild”-Zeitung in der Regel, dass irgendjemand irgendetwas Knalliges/Heftiges/Stammtischiges gesagt hat. Und sie freut sich in der Regel dann, weil sie dadurch eine Debatte anheizen kann.

Gestern gab es in der Berliner Regionalausgabe mal wieder einen “Bild”-“Rummms!”, in einem Vorabbericht zur inzwischen durchgeführten Zwangsräumung des linken Kiezladens Friedel54 im Neuköllner Reuterkiez:

In BILD spricht jetzt Grünen-Politikerin Katrin Schmidberger (34) Klartext: Sie wohnt in diesem Kiez, befürchtet gewalttätige Ausschreitungen.

Schmidberger sagt: “Ich will nicht, dass Rigaer-Straße-Wixxer in meinen Kiez kommen und alles zerdeppern. Das ist unser Kiez. Schreiben Sie Wixxer mit zwei x.”

Und weiter: “Spaß haben, sich auf den Gipfel in Hamburg eingrooven, das können sie meinetwegen auf dem Tempelhofer Feld. Da haben sie genug Platz zum Steineschmeißen.”

Rummms!

Das Problem dabei: Katrin Schmidberger hat weder das eine noch das andere gesagt. Sie hat überhaupt nicht mit “Bild”-Autor Olaf Wedekind gesprochen. Und sie wohnt auch nicht “in diesem Kiez”. Es ist alles völlig falsch.

Doch der Reihe nach.

Gestern veröffentlichte die Berliner “Bild”-Redaktion einen großen Artikel über eventuelle Ausschreitungen während der Friedel54-Räumung:

Das Aufmacher-Foto zeigt Katrin Schmidberger, Sprecherin für Wohnen und Mieten der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie setzt sich schon lange für bezahlbaren Wohnraum und gegen die Verdrängung aus den Kiezen ein. Dass ausgerechnet sie, wie von “Bild” durch die Sprechblase illustriert, die Aktivisten in der Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain als “Wixxer und Steinewerfer” bezeichnet, wäre eine große Überraschung. Genau das richtige “Rummms!”-Potential, nach dem “Bild” stets sucht.

Die Redaktion warb mit dieser Geschichte auch auf Aufstellern, die vor Kiosken in der ganzen Stadt stehen — unter anderem vor einem Laden in der Rigaer Straße, wo die “‘Rigaer-Straße-Wixxer'” vorbeikommen.

“Bild”-Rechercheur Peter Rossberg erklärte den Artikel am Abend vor dessen Erscheinen bei Twitter zu seiner “Lieblingsgeschichte morgen”:


(Den Tweet hat Rossberg inzwischen gelöscht.)

Die “B.Z.” brachte ebenfalls einen Text von Olaf Wedekind zum Thema, zwar etwas kürzer, aber genauso falsch:

Die Zitate in “Bild” und “B.Z.” stammen nicht von Katrin Schmidberger, sondern von ihrer Fraktionskollegin Anja Kofbinger. Die hat, anders als Schmidberger, auch tatsächlich ihr Wahlkreisbüro im Reuterkiez. Die Verwechslung der beiden Politikerinnen durch “Bild” und “B.Z.” dürfte nach Angaben der Grünen in etwa so zustande gekommen sein: Nach einem Anruf der Redaktion bei den Grünen in Neukölln, hat Anja Kofbinger zurückgerufen. Ein Kollege von Olaf Wedekind leitete den Anruf an diesen weiter, womöglich mit der Ansage, dass Katrin Schmidberger am Apparat sei. Wedekind hat dann mit der Frau am anderen Ende der Leitung telefoniert, ohne wirklich zu wissen, mit wem er da spricht. Anja Kofbinger soll allerdings mehrfach gesagt haben, dass sie Anja Kofbinger ist.

Katrin Schmidberger veröffentlichte gestern auf ihrer Website eine “Richtigstellung zu angeblichen Zitaten in der Bild/B.Z.” und schrieb bei Facebook, dass sie mit niemandem aus dem Springer-Verlag gesprochen habe.

“Bild” hat heute eine “Richtigstellung” veröffentlicht:

Sie finden sie nicht auf Anhieb? Sie steckt dort rechts, eingeklemmt zwischen “Bier-Botschafter” und “U-Bahn-Strecken”:

Und auch in der “B.Z.” gibt es eine “Berichtigung”:

Keine Schonzeit für den Rechtsstaat

Fast scheint es so, als hätten die Terroristen gewonnen, als hätte die RAF den Rechtsstaat besiegt. Denn Gesetze gelten nicht mehr für jeden gleich, Richter und Beweiserhebungen sind unnütz. Das könnte man zumindest gelegentlich meinen, wenn man die Berichterstattung von “Bild” verfolgt.

In diese Denkweise ordnet sich der Artikel auf Bild.de ein, der über die Verurteilung der früheren RAF-Terroristen Inge Viett berichtet:

Viett hatte im Juni 2008 in Berlin gegen ein Bundeswehr-Gelöbnis protestiert und dabei — so die Überzeugung des Gerichts — leichten Widerstand gegen zwei Polizeibeamte geleistet, indem sie sich beim Abführen mit den Füßen gegen die Laufrichtung stemmte. Dafür ist sie zu einer Geldstrafe von 225 Euro verurteilt worden.

Der ursprünglich erhobene Vorwurf der versuchten Gefangenenbefreiung wurde vom Gericht fallen gelassen. Für Bild.de ist auch dies offenkundig keine Folge der Beweisaufnahme, sondern ein Zeichen unbotmäßiger Milde des Gerichts.

Damit der Artikel diesen Eindruck erwecken konnte, mussten freilich einige Details wegfallen, die sich zum Beispiel bei Welt.de finden:

Nach Auffassung des Gerichts Tiergarten hatte Viett nicht — wie von der Staatsanwaltschaft angeklagt — am Arm eines Polizeibeamten gezerrt, um die Festnahme eines jungen Mannes zu verhindern. Vielmehr habe sie versucht, die “aggressive Situation zu beruhigen”. Die Richterin sprach von einer “beschwichtigende Geste, weil es zuvor ganz schön zur Sache gegangen” sei.

Doch entlastende Fakten stören nur, Bild.de setzt lieber auf vollmundige Empörung:

Ein Skandal-Urteil! Denn Normalbürger ohne Vorstrafe müssen mit Haft bis zu zwei Jahren rechnen.

Und die Antwort auf die Frage “Schonzeit für eine Ex-RAF-Terroristin?” hätte sich Bild.de selbst geben können. Sie lautet: Nein.

Es ist zwar richtig, dass die Höchststrafe für Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei zwei Jahren Gefängnis liegt. Dass unbescholtene Bürger wegen geringfügigen Widerstands jedoch zu solchen drakonischen Strafen verurteilt werden, ist jedoch ein Ammenmärchen.

So gibt der “Tagesspiegel” ein wenig Perspektive:

Krawalle bei Demonstrationen, Attacken auf Polizisten, Autobrände – fast täglich laufen derzeit im Moabiter Kriminalgericht Prozesse gegen mutmaßliche Linksextremisten. Mai-Randalierer erhielten zum Teil deutliche Gefängnisstrafen. Zu jeweils drei Jahren und drei Monaten wegen versuchter Körperverletzung wurden zwei 19-Jährige verurteilt, die einen Brandsatz warfen. Dass auch der Wurf einer gefüllten Plastikflasche auf einen Polizisten zu einer harten Sanktion führen kann, erlebte am Mittwoch ein 29-Jähriger, der sich nach Ausschreitungen bei der gescheiterten Besetzung des Flughafens Tempelhof verantworten musste: Ein halbes Jahr Gefängnis erging gegen den vorbestraften Angeklagten.

Mit Dank an Johannes G. Und Torsten B.

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Kreuz-Zug ohne Happy End

Der Volksentscheid “Pro Reli”, der in Berlin Religion als Wahlpflichtfach und Alternative zum gemeinsamen Ethik-Unterricht einführen wollte, ist gescheitert — aber an mangelndem Engagement der “Bild”-Zeitung kann es nicht gelegen haben. Konsequent führte sie ihre wundersame Werbestrategie der vorangegangenen Tage fort — diesmal ergänzt um einen ebenso schlichten wie unmissverständlichen Hinweis unter dem “Bild”-Logo auf Seite 1:

Nun ist das für “Bild” nicht die erste Niederlage. Vor fast genau einem Jahr scheiterte der von “Bild” mit ähnlich zweifelhafter Propaganda unterstützte Volksentscheid, Berlin-Tempelhof als Flughafen zu erhalten. Entsprechend routiniert löst die “Bild”-Zeitung heute die Aufgabe, aus der eigenen Niederlage eine für sie positive Schlagzeile zu machen (siehe Ausrisse rechts).

Und wie schon vor einem Jahr gelingt es “Bild” nicht richtig gut, ein fairer Verlierer zu sein. Unter der Überschrift “So hat Berlin gewählt” dokumentiert die Zeitung das Ergebnis der “großen BILD-Umfrage in den Wahllokalen der Stadt” — von 13 Befragten haben erstaunlicherweise nur zwei gegen “Pro Reli” gestimmt.

In einem weiteren Artikel behauptet “Bild”:

Auch der zweite berlinweite Volksentscheid ist an der hohen Hürde der Mindestzahl der erforderlichen Ja-Stimmen gescheitert.

Das stimmt bestenfalls halb: Es haben nämlich mehr Menschen gegen “Pro Reli” gestimmt als dafür. Mit dem gestrigen Wahlergebnis wäre “Pro Reli” gescheitert, ganz egal wie hoch das Quorum (die erforderliche Zahl der Ja-Stimmen) gewesen wäre.

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So ein Volksentscheid muss ja keine Wahl sein

Am Sonntag dürfen die Berliner über einen Gesetzesentwurf abstimmen, den die Initiative “Pro Reli” vorgelegt hat. Sie kämpft dafür, aus dem Fach Religion, dessen Belegung in Berlin traditionell freiwillig ist, ein Wahlpflichtfach zu machen.

Die Materie ist ein bisschen kompliziert (PDF), aber die “Bild”-Zeitung hat es gestern geschafft, sie für ihre Leser auf eine einigermaßen verständliche Formel herunterzubrechen:

Und für diejenigen “Bild”-Leser, denen das zu dezent und unentschieden war und die sich heute immer noch fragen, was sie denn wohl wählen sollen, gibt es heute noch einmal eine Art Wahlservice:

Im Kern geht es bei dem Volksentscheid um die Frage, ob die Schüler in Zukunft wählen dürfen und müssen zwischen dem Fach Ethik und dem Religionsunterricht, wie es “Pro Reli” fordert. Bislang werden die Schüler gemeinsam in Ethik unterrichtet; der nach Konfessionen und Glaubensrichtungen getrennte Religionsunterricht ist freiwillig und findet oft nur in unattraktiven Randstunden statt.

“Bild” und die anderen Zeitungen des Springer-Verlages hatten bereits das Volksbegehren, das zu dem Volksentscheid am kommenden Sonntag führte, massiv unterstützt. Laut “Bild” geht es “um mehr als nur um das Schulfach Religion”, nämlich um die Freiheit. Wer für “Pro Reli” stimme, stimme “für die Freiheit”.

Wie schon beim Volksentscheid über die Zukunft des Flughafens Tempelhof geht “Bild” nicht das Risiko ein, die Argumente der Gegner auch nur zu erwähnen. Kritiker von “Pro Reli” kommen fast nicht zu Wort. “Bild” berichtet: “Prominente unterstützen ‘Pro Reli'” — nennt aber keinen Prominenten, der die Gegenkampagne “Pro Ethik” unterstützt. Die Meldung, dass Desirée Nick “Pro Reli” ihre Unterstützung entzogen hat und ihr einen “Kreuzzug” und Bauernfängerei vorwirft, steht selbstverständlich nicht in “Bild”.

Allerdings berichtete “Bild” am Dienstag, dass der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit am vergangenen Wochenende bei einem Kongress der “taz” den Fernsehmoderator Günther Jauch für die Art, wie er für “Pro Reli” wirbt, kritisiert hatte. Was Wowereit bei der Gelegenheit noch gesagt hatte, stand nicht in “Bild”:

“Dass nun eine konservative Verlagsgruppe auf den rot-roten Senat einschlägt, ist ja nachvollziehbar. Die Frage ist immer: Wo ist Journalismus noch als Journalismus erkennbar? Ich sag mal, was in Tempelhof gelaufen ist, mit einer monatelangen Schlagzeilenkampagne in allen drei Blättern. Ich glaube, das hat es in dieser Stadt, so lange ich mich politisch erinnern kann, noch nie gegeben. Bei Pro Reli fing das ja auch so an Anfang des Jahres, jetzt ist es ein bisschen abgestoppt, nun warten wir mal ab, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, wie das noch die nächste Woche ausgehen wird.”

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