Archiv für März 23rd, 2017

“Ich gehe davon aus, dass ihre Geschichte erfunden ist”

Morgen jährt sich zum zweiten Mal der Absturz des “Germanwings”-Flugs 4U9525. 150 Menschen sind damals in den französischen Alpen ums Leben gekommen, darunter auch Co-Pilot Andreas Lubitz, der die Maschine bewusst zum Absturz gebracht haben soll. Während viele der Hinterbliebenen sich treffen und gemeinsam trauern werden, werden Lubitz’ Eltern in Berlin bei einer eigens organisierten Pressekonferenz sitzen. Sie wollen ein Gutachten präsentieren, in dem es um Zweifel an den offiziellen Ermittlungen zur Absturzursache gehen soll.

In der “Zeit” von heute ist ein lesenswertes Stück von Petra Sorge zum Thema erschienen (hier eine Zusammenfassung von “Zeit Online”). Sie hat sich mit Günter Lubitz, dem Vater von Andreas, getroffen und mit ihm über verschiedene Gutachten, Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft, seine Motivation gesprochen:


Der Text handelt auch von der Berichterstattung rund um den “Germanwings”-Absturz. Es geht um ein brennendes Grab, um herumschleichende Reporter, um möglicherweise erfundene Interviewaussagen. Es geht vor allem um die “Springer”-Blätter “Bild” und “Welt am Sonntag”.

***

Da ist zum Beispiel der “Bild”-Bericht über das Grab von Andreas Lubitz. In der Print-Ausgabe und online hatten die “Bild”-Redaktionen Ende Juni 2015 groß auf der Titel- beziehungsweise Startseite über die Beerdigung des “Germanwings”-Co-Piloten berichtet …


… und dabei auch dessen Grab, niedergelegte Kränze, letzte Grüße von Freunden gezeigt.

Petra Sorge schreibt in ihrem “Zeit”-Artikel:

Kurz nach der Beerdigung von Andreas Lubitz gelangte ein Reporter auf den Friedhof. Er fotografierte das Grab: Kränze, die letzte Widmung der Familie. Bild veröffentlichte das Foto. Kurze zeit später setzte jemand das Grab in Brand. Der Brandstifter wurde nie gefunden.

Wegen der Veröffentlichung des Fotos folgte ein Gerichtsverfahren, das noch immer nicht endgültig entschieden ist. Inzwischen liegt der Fall beim Bundesgerichtshof:

Das Kammergericht Berlin untersagte den Abdruck des Fotos schließlich, mit der Begründung, die Berichterstattung stelle “einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte” der Kläger dar. Der Springer-Verlag hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Über die Frage von Pietät, Persönlichkeitsrecht und Grenzen der Pressefreiheit muss nun der Bundesgerichtshof entscheiden.

Nun kann man über einen direkten Zusammenhang von Bericht und Feuer nur mutmaßen. Die Tatsache aber, dass “Bild” und Bild.de trotz des Brandes und der möglichen Gefahr einer weiteren Brandstiftung im vergangenen August wieder mit großen Fotos über das Grab von Andreas Lubitz und den neuen Grabstein dort berichtet haben, wird vor diesem Hintergrund noch ekliger als es eh schon ist.

***

Direkt im Anschluss schreibt Petra Sorge:

Günter Lubitz hat lange überlegt, ob er mit der ZEIT sprechen soll. Mehrmals stand das Treffen auf der Kippe, besonders nachdem im Februar zwei Journalisten nahe dem Haus waren und danach behauptet hatten, die Familie habe sich erstmals öffentlich geäußert. Diese aus dem Zusammenhang gerissene “Äußerung” stammte aus einem Antwortschreiben, mit dem Günter Lubitz schon im November 2016 auf die Bitte um ein Interview reagiert hatte.

Bei den “zwei Journalisten” dürfte es sich um Mitarbeiter der “Welt am Sonntag” handeln. Die Wochenzeitung hatte vor gut einem Monat, am 26. Februar, vier Seiten über den “Germanwings”-Absturz veröffentlicht. In dem langen Text findet sich auch diese Passage:

Erstmals überhaupt haben sich die Eltern nun zu Wort gemeldet. Auf Anfrage der “Welt am Sonntag” schrieben sie: “Zum Absturz des Germanwings-Fluges 9525 ergeben sich auch für uns noch viele unbeantwortete Fragen, merkwürdige Sachverhalte und Zweifel am bisher kommunizierten Unfallhergang. Wir sind momentan selber noch am Recherchieren.” Zu dem “völlig falsch gezeichneten Bild” ihres Sohnes wollen sie sich momentan aber noch nicht äußern.

Ein “Unfallhergang”? Ein “völlig falsch gezeichnetes Bild” ihres Sohnes?

Aus einer E-Mail-Absage auf eine Interview-Anfrage vom November 2016 macht die “Welt am Sonntag” im Februar 2017 also die exklusive Nachricht, dass Lubitz’ Eltern sich “erstmals überhaupt” geäußert hätten.

“Bild” und Bild.de griffen das Thema direkt auf:


Franz Josef Wagner schrieb einen Brief an die Eltern von Andreas Lubitz.

***

Der dritte Abschnitt im “Zeit”-Artikel zur Berichterstattung über die “Germanwings”-Katastrophe ist der brisanteste. Es geht um ein Interview von “Bild”-Reporter John Puthenpurackal aus dem März 2015:



Die Aussagen der angeblichen “Ex-Freundin” über Lubitz’ angebliche Ausraster und seine angeblichen Ankündigungen waren nur wenige Tage nach dem Unglück entscheidende Bausteine bei der medialen Konstruktion eines Psychogramms.

“Bild” schreibt in dem Artikel:

Die Stewardess Maria W. (26) war eine zeitlang die Freundin von Todes-Pilot Andreas Lubitz (27).

Fünf Monate lang flogen sie im vergangenen Jahr zusammen durch Europa und übernachteten heimlich gemeinsam in Hotels.

BILD-Reporter John Puthenpurackal hat ihre Identität überprüft. Er ließ sich u.a. ein Foto zeigen, das die Stewardess und den Amok-Piloten bei einem Flug in derselben Crew zeigt.

Wir haben den Namen auf ihren Wunsch geändert, sie so fotografiert, dass sie nicht erkannt werden kann. In BILD spricht jetzt die Frau, die diesem Mann sehr, sehr nah war.

Trotz Identitätsprüfung durch Reporter Puthenpurackal und Foto-zeigen-lassen glaubt Staatsanwalt Christoph Kumpa laut “Zeit” inzwischen, dass die Aussagen in dem “Bild”-Artikel erfunden seien. Petra Sorge schreibt:

Und dann ist da die Sache mit der angeblichen Ex-Freundin seines Sohnes, der Stewardess Maria W. Bild druckte im März 2015 ein Interview mit ihr, wonach Andreas Lubitz angekündigt haben soll: “Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.” Maria W. habe sich wegen seiner Probleme von ihm getrennt: “Er ist in Gesprächen plötzlich ausgerastet und schrie mich an. Ich hatte Angst. Er hat sich einmal sogar für längere Zeit im Badezimmer eingesperrt.” Das Interview schien genau jenes Puzzleteilchen zu liefern, das noch fehlte zum Bild eines Wahnsinnigen. Als die Staatsanwaltschaft einen Zeugenaufruf startete, meldete sich aber keine Maria W. Staatsanwalt Kumpa erklärt jetzt auf ZEIT-Anfrage: “Ich gehe davon aus, dass ihre Geschichte erfunden ist.”

“Bild” wehrt sich im “Zeit”-Artikel gegen diesen Vorwurf.

“Schwäbische Zeitung” verzichtet aufs Ermitteln

Oft ist der Ablauf so: Bei einem Verbrechen gibt es eine oder mehrere tatverdächtige Personen, dann ermitteln die zuständigen Behörden und am Ende steht hoffentlich fest, wer Täter oder Täterin, Krimineller oder Kriminelle ist. Das Ermitteln ist ein wesentlicher Bestandteil.

Gestern Abend hat Ekkehard Falk, Polizeipräsident von Konstanz, dem Gemeinderat Sigmaringen die Kriminalitätsstatistik der Stadt präsentiert. Darunter auch diese Zahlen, wie das Online-Portal der “Schwäbischen Zeitung” schreibt:

Die Polizei ermittelte im vergangenen Jahr knapp 950 Tatverdächtige. 426 von ihnen sind Ausländer, 292 Flüchtlinge.

Tatverdächtige. Nicht Täter.

Welche Überschrift passt da dann so gar nicht, schwäbische.de?

Aufs Ermitteln verzichtet die “Schwäbische Zeitung” offenbar.

Mit Dank an Martin B. für den Hinweis!

Nachtrag, 17:09 Uhr: Die “Schwäbische Zeitung” hat reagiert, die Überschrift lautet nun: “Jeder dritte Tatverdächtige ist ein Flüchtling”.

Verschlimmbesserung, Treppenlift-Spiegel, US-Comedy-Boom

1. Der Pressekodex öffnet sich für die „Lügenpresse“-Verschwörer
(udostiehl.wordpress.com)
Der Deutsche Presserat hat den sogenannten Pressekodex überarbeitet. Konkret ging es um die vieldiskutierte Richtlinie 12.1, welche die Berichterstattung über Straftaten und die Erwähnung von ethnischen, religiösen und anderen Zugehörigkeiten der mutmaßlichen Täter behandelt. Udo Stiehl vergleicht die Formulierungen der neuen mit der alten Richtlinie. Mit der Änderung bzw. Aufweichung dieser Richtlinie wollte man wohl dem von Lügenpresse-Rufern und Besorgtbürgern oft geäußerten Vorwurf begegnen, die Presse verschweige bewusst Angaben zur Herkunft von Tätern. Stiehls Resümee: “Die Richtlinie 12.1 ist in ihrer neuen Form unkonkreter und öffnet damit genau jenen Provokateuren neue Möglichkeiten, die Presseberichterstattung ohnehin gezielt diskreditieren wollen.”

2. Berichterstattung über dubiose Anbieter: Kanzlei droht Journalisten
(test.de)
Die Stiftung Warentest berichtet immer wieder über schwarze Schafe im Finanzbereich. Um Anleger vor dubiosen Angeboten zu schützen, muss natürlich der Name des Anbieters genannt werden. Die Kanzlei Höcker Rechtsanwälte aus Köln wolle das oft verbieten. Sie versuche Journalisten einzuschüchtern, indem sie bereits vor einer Veröffentlichung mit rechtlichen Schritten gegen die Berichterstattung drohe. Das sei ein Angriff auf die Pressefreiheit, so die Stiftung. Zwei konkrete Beispiele machen deutlich, wie seitens der Kanzlei mit Warnschreiben und unverhohlenen Drohungen operiert wird.

3. Facebook führt Anfechtungstool für Falschmeldungen ein
(zeit.de, Jan Aleksander Karon)
Vorerst nur in den USA führt Facebook ein Anfechtungstool für Falschmeldungen ein: Ein rotes Warndreieck soll darauf hinweisen, dass ein Beitrag unter Fake-News-Verdacht steht. Wer einen derartigen Artikel auf Facebook teilen will, bekommt einen Warnhinweis und weitere Informationen eingeblendet.

4. Fast ohne Treppenlift
(taz.de, René Martens)
René Martens hat sich den neuen “Spiegel Classic” angeschaut, den „Spiegel“-Spin-off für die Generation 50+. Große Begeisterungsstürme hat ihm das Heft nicht abgerungen: “Das Magazin für sehr erwachsene Erwachsene liefert zwar Eins-a-Qualitätsjournalismus, wirkt aber allzu gediegen, um nicht zu sagen: verschnarcht. Ironie? Witz? Schwer auszumachen. Spiegel Classic mutet so berechenbar an wie der Set eines Ü50-Party-DJs.”

5. Twitter-Transparenzbericht: Frankreich und Türkei stellen die meisten Löschanfragen
(netzpolitik.org, Markus Reuter)
Im Twitter-Transparenzbericht für das zweite Halbjahr 2016 ist die Türkei weltweit führend, was die Anzahl der Löschversuche angeht. Weltweit seien 13 Prozent mehr Löschanfragen gestellt worden als im Vorhalbjahr. Die meisten dieser Ersuchen seien keine Folgen von Gerichtsurteilen, sondern Anfragen von Regierungsstellen und Polizeien. 88 Anfragen hätten sich gegen verifizierte Journalisten oder Medien, fast 90 Prozent dieser Anfragen seien aus der Türkei gekommen.

6. Die besten Witze kommen aus Washington
(faz.net, Christiane Heil)
Christiane Heil berichtet aus Los Angeles über den Aufschwung der amerikanischen Comedians seit Trumps Machtübernahme im Weißen Haus. Die Comedy-Show „Saturday Night Live“ (SNL) hatte unlängst die höchsten Einschaltquoten der letzten 20 Jahre. Der sogenannte „Trump bump“ treibe aber auch auf die Einschaltquoten anderer Sendungen in die Höhe.

7. Offener Brief anlässlich des “Bild”-Beitrags “Darf man Sie Mongo nennen?”
(facebook.com, Lorenz Meyer)
Als siebter und damit zusätzlicher Link ein Hinweis auf den offenen Brief von 6-vor-9-Kurator Lorenz Meyer (also von mir) an die “Bild”-Redaktion. Diese hatte am Tag des Down-Syndroms geschlagzeilt: “Darf man Sie Mongo nennen?”, überschrieben mit “Bild fragt Fragen, die sich keiner zu stellen traut”.
Der Beginn meiner Botschaft an die Kollegen: “Ich könnte es mir natürlich leicht machen und Euch im Gegenzug fragen, ob ich Euch “Arschlöcher” nennen darf? Aber ich will mir mal die Mühe machen und Euch erklären, was an Eurer Schlagzeile falsch und schlecht ist.”