Archiv für Dezember 21st, 2016

“6 vor 9”-Sonderausgabe: Anschlag in Berlin

1. Wir schämen uns
(djv.de, Hendrik Zörner)
Hendrik Zörner distanziert sich auf der Seite des “Deutschen Journalisten Verbandes” von der Arbeitsweise der “Berliner Morgenpost”. Diese habe Live-Bilder vom Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz bei Facebook gepostet, auf denen auch Verletzte zu sehen gewesen seien. Dieses Vorgehen sei nicht nur wahnsinnig geschmacklos, sondern auch ein Verstoß gegen den Pressekodex. Zörner dazu wörtlich: “Klar ist und klar muss sein: So arbeiten Journalisten in unserem Land nicht! Das verbieten ihnen ihr Informationsauftrag und das ethische Fundament, auf dem Journalistinnen und Journalisten stehen.”

2. Was wir wissen — oder gerade für nicht ganz unwahrscheinlich halten
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Der Ansatz, einen Artikel mit “Was wir wissen” und “Was wir nicht wissen” zu überschreiben, sei einmal eine schöne Idee gewesen, so Stefan Niggemeier bei “Übermedien”. Leider werde diese Artikelform mittlerweile inflationär eingesetzt. Mit einer damit einhergehenden Senkung der Standards, wie er an einigen Beispielen festmacht.

3. “Deutschland und Europa sind zu fettleibig, um den Weckruf zu hören”
(sueddeutsche.de)
Die “Süddeutsche” hat zusammengestellt, wie die internationale Presse auf den Anschlag in Berlin reagiert. Mit dabei sind “Telegraph” (Großbritannien), “Financial Times” (Großbritannien), “De Volkskrant” (Niederlande), “Magyar Idők” (Ungarn), “Wedomosti” (Russland), “Pravda” (Slowakei), “Sme” (Slowakei) und “Evenimentul Zilei” (Rumänien).

4. Der Unfall, der ein Anschlag war
(faz.net, Michael Hanfeld)
Michael Hanfeld kritisiert die Arbeitsweise der Fernsehsender: “Die Öffentlich-Rechtlichen haben die Ruhe weg. Was sagt uns das? Hat es Verweischarakter? Es hat und deutet darauf hin, dass sich die Sender ihrer Sache ganz und gar nicht sicher sind. Sie agieren in einer Weise zurückhaltend, die — sehen wir einmal von RTL ab — ans Absurde grenzt.”

5. Die Stunde der Reporter
(Joachim Huber, tagesspiegel.de)
Auch Joachim Huber kommentiert die Berichterstattung der Fernsehsender. Alle hätten sich angestrengt, möglichst nah am und vom Tatort Informationen einzuholen und zu vermitteln. Es sei die Stunde der Reporter gewesen, besonders die von “RBB”-Reporterlegende Ulli Zelle: “Er schafft es mehrfach via Solo-Einsatz hinter dem Absperrband, dem nicht gesehenen und nicht sichtbaren Geschehen ein Narrativ zu geben. Er bindet zusammen, erschafft Zusammenhänge, er ist Reporter, der für den Zuschauer das Geschehen und das Geschehene visualisiert. Und er ist betroffen, ohne seine Betroffenheit auszustellen.”

6. Warum Facebook sofort vom “Anschlag in Berlin” ausging
(zeit.de, Patrick Beuth)
Facebooks Safety-Check-Funktion ermöglicht es Nutzern, ihren Freunden zu signalisieren, dass sie in Sicherheit sind. Das System sei hilfreich, weise aber nach einem Umbau Schwächen auf, so Patrick Beuth bei “Zeit Online”. So wurde der Ort des Geschehens mit Berlin-Heinersdorf anfangs falsch angegeben. Zum anderen könne man die (wechselnde) Art der Verschlagwortung (Anschlag/Gewalttat/Vorfall) hinterfragen: “Man kann Facebook also durchaus vorwerfen, durch seine Wortwahl möglicherweise für noch mehr Unruhe gesorgt zu haben. Den Vorwurf müssen sich aber auch alle Medien und alle Nutzer gefallen lassen, die ohne jede offizielle Bestätigung von einem Anschlag berichteten.”

7. Journalisten können den Wettbewerb mit Social Media nicht gewinnen
(stefan-fries.com)
Den Wettbewerb mit sozialen Netzwerken könnten Redaktionen nicht gewinnen, sie sollten sich gar nicht erst darauf einlassen, findet Stefan Fries. Der Wettbewerb finde unter ungleichen Bedingungen statt. Oft würden sich Gerüchte schon auf ihren Weg durch die Sozialen Netzwerke gemacht haben, während Journalisten immer noch nicht loslaufen könnten, weil sie erst Informationen recherchieren müssten. (Siehe dazu auch das “Deutschlandfunk”-Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörsken: “Medien können den Geschwindigkeitswettbewerb nicht gewinnen”.)

8. Nach dem Unglück in Berlin: Es geht nicht darum, wer die erste Eilmeldung raushaut
(t3n.de, Lisa Hegemann)
Auch Lisa Hegemann plädiert für kontrollierte Langsamkeit bei der Berichterstattung. Es ginge nicht darum, der Schnellste zu sein: “Für uns Nutzer bedeutet das aber auch: Nicht gleich auf den Medien rumhacken, nur weil sie zwei Minuten nach einem Vorfall noch nicht berichten! Wir müssen lernen, die Ungewissheit auszuhalten. Notfalls auch mal länger als eine Stunde.”

9. Anschlag in Berlin – wie (gut) haben die Medien reagiert?
(dbate.de, Stephan Lamby, Video, 7:55 Min.)
Medienjournalist Daniel Bouhs (u.a. “taz”, “Zapp”) analysiert in einem mitgeschnittenem Skype-Videogespräch auf “dbate” die Berichterstattung der Medien in Berlin. Nach dem Gespräch hat Bouhs noch einen ergänzenden Facebookeintrag verfasst, in dem er sich mehr Medientrainings für Krisensituationen wünscht: “Jedes mittelständische Unternehmen — Konzerne sowieso — üben die Krise. Ich habe selbst mal an so etwas teilgenommen: Eine Molkerei wurde in einem fiktiven Szenario erpresst, minutiös geplant per Drehbuch, umgesetzt zwei Tage lang mit Statisten europaweit. Call-Center (“Mir ist schlecht — Ihr Produkt ist vergiftet!”), Geschäftsleitung (“Was tun?!”), Wachschutz (“da ist ein RTL-Team auf unserem Gelände!”), Pressestelle (“schon wieder ein Anruf von dpa!”) — sie alle haben die Großlage durchgespielt, mit beeindruckendem Schauspiel, bei dem die Beteiligten nach fünf Minuten vergessen hatten, dass das bloß eine Übung war.”

10. Hey AfD, ihr bekommt meine Empörung nicht!
(medium.com, Simon Hurtz)
Simon Hurtz schlägt vor: “Lasst uns 2017 nicht zu einem Festjahr für Populisten machen” — und richtet sich damit auch an Journalisten und Medien, die häufig und gerne jedes Skandälchen aufgreifen, das die AfD mit grässlichen Aussagen herbeiführen will. Hurtz selbst hat die Ausfälle von Marcus Pretzell, Landesvorsitzender der NRW-AfD, zum Geschehen in Berlin ganz bewusst ignoriert: “Einen Tag und viele Gespräche später glaube ich, dass die richtige Reaktion auf bewusste Provokation zweistufig verlaufen muss: souveräne Ignoranz, gefolgt von entschiedenem Widerspruch.” Was er damit genau meint, erklärt er in seinem Beitrag.

11. Der Anschlag von Berlin und die Medien
(bildblog.de, Moritz Tschermak)
Last but not least ein Link auf einen Beitrag aus dem eigenen Haus. BILDblogger Moritz Tschermak hat sich die Berichterstattung von berliner-zeitung.de, Bild.de, bz-berlin.de, Welt.de und “Zeit Magazin” angeschaut. Sein Fazit nach vielen Beispielen: “Das Gegenteil von all dieser Hysterie und dem Gerüchtehinterherlaufen wäre: abwarten, die ermittelnden Behörden ihre Arbeit machen lassen, dann berichten, wenn es gesicherte Fakten gibt.”

ARD-Selbstfesselung, Unstatistik, Radio Facebook

1. Algorithmen sind kein Gegenmittel
(faz.net, Adrian Lobe)
Algorithmen seien kein Mittel gegen Fake-News, sondern die Ursache des Problems, so FAZ-Autor Adrian Lobe: “Erst durch die Automatisierung der Nachrichtenlese und damit verbundenen Erosion der Gatekeeper-Funktion sind die Schleusen geöffnet worden, durch die nun Unmengen an Falschnachrichten an die Oberfläche gespült werden.” Wer Fake-News jedoch verbanne, ohne zu begründen, was falsch ist und warum, sei nicht der Wahrheit verpflichtet, sondern mache sich zum Erfüllungsgehilfen eines autoritären Regimes.

2. Wie sieht die Online-Zukunft der ARD aus?
(ndr.de, Daniel Bouhs)
Wenn es nach den Verlagen geht, soll sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk möglichst auf seine audiovisuellen Inhalte konzentrieren und von allem Geschriebenen fernhalten. Daniel Bouhs berichtet von Verhandlungen zwischen Verlegerseite und ARD, die befürchten lassen, dass sich der Sender bald selbst Handschellen anlegt. In einer Art Selbstverpflichtung soll zugesichert werden, dass auf den Startseiten der Internet-Angebote maximal ein Drittel Text gezeigt wird.

3. Big Data knackt Ihre Psyche
(rwi-essen.de, Katharina Schüller)
Mit der “Unstatistik des Monats” werden regelmäßig jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen überprüft. In der aktuellen Ausgabe beschäftigt sich Gastautorin Katharina Schüller mit der unlängst aufgestellten Behauptung, dass ein Facebook-Algorithmus Donald Trump zum Wahlsieg verholfen habe. Schüllers ernüchterndes Fazit: “Selbst wenn alle Daten korrekt wären, ist der Algorithmus kaum mehr als eine Formalisierung von Alltags-Klischees.”

4. Die Türkei zensiert im Netz und auf der Straße
(dasnetz.online, Hauke Gierow)
Hauke Gierow berichtet über die besorgniserregende Einschränkung der Internetfreiheit in der Türkei. Alle Zeichen würden in die gleiche Richtung deuten: Mehr autoritäre Eingriffe, mehr Kontrolle und mehr Menschenrechtsverletzungen. In vielen Aspekten würde sich die Türkei an China orientieren, die ihren Bürgern mit vielen technischen Einschränkungen das Leben im Netz schwer mache. Nun sei abzuwarten, wie die internationale Gemeinschaft auf die Eingriffe reagiere und ob sich Unternehmen von dem Land abwenden würden.

5. War #KeinGeldFürRechts ein unzulässiger Boykottaufruf?
(internet-law.de, Thomas Stadler)
Ein Mitarbeiter der Werbeagentur Scholz & Friends hatte auf seinem privat geführten Blog die Aktion #KeinGeldFürRechts ins Leben gerufen: Werbetreibende sollten überprüfen, ob sie auf bestimmten rechten Websites/Portalen Werbung geschaltet haben und ob das wirklich im Sinne ihres Unternehmens ist. Der darauf folgende Shitstorm war gewaltig und hatte auch persönliche Konsequenzen: Der Werber kündigte sein Arbeitsverhältnis und zog sich vorerst zurück.
Rechtsanwalt Thomas Stadler prüft in seinem Blog nun, ob es sich bei der Aktion um einen unzulässigen Boykott-Aufruf gehandelt habe.

6. Warum Facebooks neue Funktion #LiveAudio eine große Chance ist
(marckrueger.tumblr.com)
Anfang 2017 will Facebook eine neue Funktion namens “Live Audio” starten und nach und nach für alle Nutzer freischalten. Rundfunkspezialist Marc Krüger über mögliche Gewinner und Verlierer: “Die neue Live-Funktion von Facebook ist also eine gute Nachricht für alle Audio-Liebhaber, natürlich für Radio-Sender, Podcaster, Autoren, Musiker, Verlage. Sie ist außerdem eine große Chance für Audio-Inhalte, die jahrelang und konstant als das nächste große Ding galten – und doch eine hoffnungsvolle Nische geblieben sind. Durch Facebook bekommen sie in den kommenden Monaten ganz sicher neue Aufmerksamkeit, die sie nutzen können und sollten. Eine schlechte Nachricht ist Facebooks neue Audio-Liebe dagegen für Plattformen wie Soundcloud und auch ein bisschen für Podcast-Platzhirsche wie iTunes oder Streaming-Dienste wie Spotify.”