Archiv für Juli 15th, 2016

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“Extrem drastisches Video”, munter retweetet

Vergangene Nacht, als die ersten Meldungen und Fotos und Videos vom Attentat in Nizza auftauchten, hat Tanit Koch sich richtig heißgetwittert. Die “Bild”-Chefredakteurin verbreitete Titelseiten von französischen Tageszeitungen, Aussagen vom früheren Bürgermeister von Nizza und vom deutschen Regierungssprecher, Fotos von Leichen. Und sie retweetete mehrere Videos aus der südfranzösischen Stadt.

Dafür gab es bei Twitter einiges an Kritik:

Es gab aber auch Leute, die Tanit Koch zur Seite sprangen und sie gegen ihre Kritiker verteidigten:

Was der frühere “Bild”-Mitarbeiter Dirk Benninghoff und “Tichys Einblick”-Autor Dushan Wegner offenbar nicht wissen: Die Kritik an Tanit Koch richtet sich nicht gegen das Verbreiten von News beziehungsweise von “Videos von Reuters oder ABC”, sondern gegen den Retweet eines ganz bestimmtes Videos: Es zeigt 45 Sekunden lang sehr explizit und sehr nah viele blutüberströmte und tote Menschen. Zuschauer, die die Personen aus dem Video persönlich kennen, dürften keine großen Probleme haben, sie zu identifizieren.

Diese Aufnahmen, die mit dem Warnhinweis “Extremely GRAPHIC VIDEO” versehen sind, hatte Tanit Koch bei einer britischen Sensationsplattform — die fälschlicherweise auch Meldungen über Geiselnahmen in Nizza verbreitet hatte — gefunden und retweetet:


(Unkenntlichmachung durch uns, da wir dieses Video, das jegliche Würde der abgebildeten Personen missachtet, nicht weiter promoten wollen.)

Dass selbst Tanit Koch die Kritik an ihr offenbar nicht für völlig unangebracht hielt, zeigt sich womöglich daran, dass sie ihren Retweet inzwischen gelöscht hat. (Das hinderte sie freilich nicht daran, Dushan Wegner, den Kritiker ihrer Kritiker, zu retweeten.)

Dennoch, und auch auf die Gefahr hin, dass wir uns wiederholen: Der Pressekodex sagt recht deutlich, was bei der Berichterstattungen über Situationen wie aktuell in Nizza in Ordnung ist und was nicht:

Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird. […]

Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.

Andererseits: Was interessieren die “Bild”-Medien schon die Vorgaben und Entscheidungen des Deutschen Presserats?

Intransparenz, Rutschunfall, Wortallergien

1. „Honorare offenlegen!“
(tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Joachim Huber vom “Tagesspiegel” hat sich mit dem Justiziar des Südwestrundfunks unterhalten, der in der ARD federführend für das Rundfunkgebührenrecht zuständig ist. Es geht um den geheimnisvollen ARD-Vertrag mit Ex-Fußballprofi Mehmet Scholl. Huber erkundigt sich danach, wann die ARD die vielbeschworene Transparenz walten lasse und die Honorare ihrer Experten, Moderatoren und anderer Vertragspartner offenlege: “Ist das nicht ulkig? Ich weiß, was jeder Intendant einer ARD-Anstalt verdient, aber das Honorar für Mehmet Scholl oder Anne Will bleibt ein Sendergeheimnis.”

2. Männer machen Medien
(medienwoche.ch)
“Medienpranger.ch” versteht sich als Blog gegen sexistische Berichterstattung in Schweizer Medien. Die Autorinnen des Watchblogs haben für die “Medienwoche” einen Gastbeitrag verfasst, in dem sie ihre Motive erklären und auf typische Muster frauenfeindlicher Berichterstattung und Rollenklischees hinweisen, die sie als die Wurzel des Problems betrachten.

3. Wo war BILD?
(djv.de, Hendrik Zörner)
Auf der Ausstellungseröffnung “PresseFoto Hessen-Thüringen 2015” gab es bereits bei der Eröffnung kritische Worte über die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen von Bildjournalisten. Hendrik Zörner macht für die Abwertung des Fotografenberufs auch die “BILD” und die von ihr erfundenen “Leser-Reporter” verantwortlich. “Und die Bildjournalisten, die für BILD arbeiten? Ihre Honorare liegen bei rund 50 Euro pro Foto – eine Unverschämtheit gegenüber den fürstlichen Gagen, die die Leser-Reporter bekommen. Wie lange wollen sich die Kollegen Springers Honorarpolitik noch gefallen lassen?”

4. 10 Texte zur Journalistenausbildung – Jetzt geht es ans Auswerten
(journalist.de)
Die Branchenseite “journalist.de” und das Onlinemagazin “vocer.org” haben im Mai gemeinsam eine Serie zur Ausbildung von Journalisten gestartet. Mittlerweile sind zehn Teile zusammengekommen, in denen vor allem junge Journalisten erzählen, welche Inhalte für eine zeitgemäße Ausbildung wichtig sind. In einer Übersicht werden die Beiträge vorgestellt und verlinkt.

5. Rutschunfall bei „Netzwerk Recherche“-Recherche
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Wenn Paul-Josef Raue, langjähriger Zeitungschef, Mitverfasser des Werks „Das neue Handbuch des Journalismus“ und Autor von Artikeln wie Recherchiere immer, von der Jahrestagung des „Netzwerkes Recherche“ berichtet, bei der er selbst auf dem Podium saß, freut man sich besonders auf eine spätere Einordnung. Raue hat dies auf “kress.de” getan und dabei eine ganze Reihe von Personen genannt und zitiert, die gar nicht auf der Veranstaltung waren.

6. Noch und nöcher
(rnd-news.de, Ulrike Simon)
RND-Kolumnistin Ulrike Simon leidet unter Wort-Allergien. “Content” ist eines dieser Allergene. Zum anaphylaktischen Schock kommt es bei Simon jedoch, wenn Interviewpartner nachträglich das Wörtchen “noch” einfügen.