Archiv für September 1st, 2015

Wenn die Polizisten zweimal räumen

Heute morgen haben ungarische Polizisten den Budapester Ostbahnhof geräumt. Flüchtlinge, die zum großen Teil von dort mit der Bahn über Österreich nach Deutschland fahren wollen, sitzen momentan in der ungarischen Hauptstadt fest.

Bild.de berichtete über die Polizeiaktion im und am Bahnhof — und kündigte das Ganze heute Vormittag so auf der Startseite an:

(Klicken für größere Version.)

Ungarische Polizisten, denen Kameraobjektive aus dem Hals wachsen, Beamte ohne Gesichter oder mit Doppelgänger. Ganz offensichtlich hat Bild.de an dem Foto der Agentur “Reuters” rumgedoktort.

Diese Bildmanipulation dürfte für die Flüchtlinge keine negativen Folgen haben; wenn überhaupt wird hier das Polizeiaufgebot dramatischer dargestellt, als es in diesem Moment tatsächlich war. Vor allem die ungarische Polizei hätte also wohl Grund zur Beschwerde. Aber mal unabhängig von Vor- oder Nachteilen: Mit einer möglichst objektiven Abbildung der wirklichen Situation am Budapester Ostbahnhof hat das Vorgehen von Bild.de nichts zu tun.

Mit viel Wohlwollen könnte man diese Bildfälschung auf das extreme Querformat schieben, das die Redaktion für ihre Vorschaufotos benötigt. Das erklärt aber lange nicht, warum das Bild.de-Team auch noch an anderer Stelle Pixel verschoben hat: Vergleicht man das Originalfoto von “Reuters” (in verlinkten Fall lediglich an der oberen und der unteren Kante leicht beschnitten) mit der Version von Bild.de, sieht man, dass die Lok im Original viel weiter links steht. Eine ganze Reihe von Flüchtlingen, die oberhalb des Mannes im blauen T-Shirt stehen, der im nächsten Moment in die Hände zu klatschen scheint, wurde rausretuschiert.

Mit Dank an Christian!

Nachtrag, 2. September: Bild.de-Chefredakteur Julian Reichelt hat sich für den “Fehler” entschuldigt:

Auf unsere Nachfrage …

… hat er allerdings nicht mehr reagiert.

Bild  

“Auf der Straße ziehen Eltern ihre Kinder zur Seite”

Mimoun Azaouagh war zehn Jahre lang Profifußballer, spielte unter anderem für den VfL Bochum, Schalke 04 und die deutsche U-21-Nationalmannschaft.

Im vergangenen Sommer war er noch in der zweiten Bundesliga unter Vertrag, doch kurze Zeit später kam eine Schlagzeile, die sein Leben veränderte.

So berichtete “Bild” (auch in der Bundesausgabe) im Februar dieses Jahres über den Fußballer. Seitdem machen Leute auf der Straße einen Bogen um ihn, Bekannte distanzieren sich, Vereine wollen ihn nicht mehr – alles wegen dieser “Bild”-Geschichte, sagt er. Dabei sei sie “absoluter Quatsch”.

Ron Ulrich hat für die aktuelle Ausgabe der “11FREUNDE” ein Interview mit Azaouagh geführt, aus dem wir mit freundlicher Genehmigung einen Auszug veröffentlichen.

***

Mimoun Azaouagh, im Februar berichtete die „Bild“-Zeitung auf ihrer Titelseite, dass Sie im Visier der Staatsanwaltschaft stünden. Die Schlagzeile lautete: „Ex-Schalke-Star jetzt Salafist?“ Sind Sie einer?
Ich bin kein Salafist, ich bin Muslim. Aus Überzeugung. Ich respektiere jeden, egal welche Hautfarbe oder Religion. Ich habe Freunde, der eine ist Christ, der andere Atheist. Ich lebe hier in Deutschland, bin im multikulturellen Frankfurt aufgewachsen. Hier interessiert es keinen, wo man herkommt, woran man glaubt. Diese Toleranz habe ich von klein auf mitbekommen. Dieser Bericht hat mich geschockt.

Darin ist die Rede davon, dass Sie Ihr Leben radikal geändert, sich von Ihrer Freundin und Freunden getrennt hätten. Stimmt das?
Absoluter Quatsch. Ich bin aus einer Firma ausgestiegen, ja, aber ich denke, das ist ein normaler Vorgang. Mein Freundeskreis ist gleich geblieben, die Leute kenne ich allesamt schon seit meinen Kindertagen. Da stand auch, ich wäre bei meinen Eltern ausgezogen. Ich wohne seit meinem 17. Lebensjahr nicht mehr bei ihnen. Und überhaupt: Was soll das alles beweisen?

Üben Sie Ihren Glauben anders aus als vorher?
Kein Stück. Es ist nie mehr oder weniger geworden als zu meiner aktiven Zeit als Profi. Ich bin schon während meiner Stationen in der ersten und zweiten Liga regelmäßig in die Moschee gegangen, habe auch gefastet und fünf Mal am Tag gebetet. Ich bin aber tolerant gegenüber anderen Religionen: Im Islam gibt es keinen Glaubenszwang. Jeder soll das ausüben, was er für richtig hält. Wenn Gott gewollt hätte, dass alle Menschen nur eine Religion haben, dann hätte er nicht jedem den freien Willen gelassen.

Wurden Sie denn jemals von Salafisten angesprochen?
Nein. Ich glaube auch nicht, dass die sich trauen, mich anzusprechen. Ich habe eine ganz andere Denkweise. Für mich sind das keine Muslime, das sind Verbrecher. Jürgen Todenhöfer hat es richtig gesagt: „Der Terrorismus hat genauso wenig mit Islam zu tun wie Vergewaltigung mit Liebe.“ Genauso sehe ich es.

Sind Sie überhaupt schon Salafisten begegnet?
Man muss wissen, wer Salafist ist. Wenn Sie mir sagen, wer Salafist ist, dann kann ich sagen: Okay, gut zu wissen, von denen halte ich mich fern. Wenn ich aber in eine Moschee gehe, kann es vorkommen, dass Leute mich ansprechen, ein Foto mit mir machen wollen. Da kenne ich nicht jeden einzelnen und seine Vergangenheit.

Was sagen Sie zu den Behauptungen, Sie hätten an Koran-Verteilungen teilgenommen?
Ich habe noch nie Korane verteilt. Noch nie! Und auch noch nie versucht, jemanden zu bekehren. Da können Sie auch jeden einzelnen meiner Mitspieler fragen. Ich habe immer mein Ding gemacht und andere machen lassen. Auch hier weiß ich nicht, wie so etwas zustandekommt. Glauben die Leute, ich stelle mich auf die Frankfurter Zeil und verteile den Koran? Unter dem Bericht war ein Foto von einer Koran-Verteilung, aber dort war irgendjemand anderer abgebildet und nicht ich.

Hat sich die Polizei bei Ihnen gemeldet?
Nach dem Bericht bin ich selbst zur Dienststelle gegangen, weil ich wissen wollte, was da angeblich gegen mich vorliegt. Die Polizei hat mir mündlich und schriftlich bestätigt, dass an den Vorwürfen nichts dran ist.

Welche Folgen hatte die Berichterstattung für Sie?
Ich persönlich bin schmerzfrei, was das angeht. Aber die Leute begegnen mir anders als vorher: Sogenannte Bekannte haben mich vor dem Bericht herzlich umarmt und mit mir gequatscht, jetzt sind alle distanziert. Das merke ich allein an der Art und Weise, wie sie mir die Hand geben. Auf der Straße ziehen Eltern ihre Kinder zur Seite, weil sie im Kopf haben: Das ist Azaouagh, der Salafist.

Wie ging Ihre Familie damit um?
Für sie war es viel schlimmer. Nur ein Beispiel: Mein Bruder leitet seit fünf Jahren in einer internationalen Schule ein Fußballtraining, am Wochenende die Spiele. Einen Monat nach der Veröffentlichung hat er einen Anruf der Direktorin bekommen, die auf einmal ein Führungszeugnis von ihm sehen wollte. Sie erklärte lediglich, es sei damals vergessen worden. Doch im Endeffekt kann man ja eins und eins zusammenzählen.

Warum sind Sie nicht ihrerseits in die Öffentlichkeit gegangen?
Der „Bild“-Reporter hat mir einen Tag nach der Veröffentlichung eine SMS geschrieben, vorher nicht. Ich habe damals nicht eingesehen, auf so einen Schwachsinn einzugehen. Und auch später habe ich mich nicht geäußert. Zum einen haben die Leute sowieso ihre vorgefertigte Meinung, zum anderen bin ich auch nicht der geborene Redner. Ich habe zu meiner aktiven Zeit nie viele Interviews gegeben. Ich hatte Angst, dass ich mich verhaspele. Es war wie Lampenfieber. Andere Fußballer sprechen ganz locker, als wären sie mit dem Mikrofon geboren, ich nicht.

Inwieweit hatten die Berichte Einfluss auf Ihre Karriere?
Viele Vereine, die mich auf dem Zettel hatten, haben mich deswegen gestrichen. Da bin ich sicher.

***

Das vollständige Interview gibt’s in der aktuellen Ausgabe der „11 FREUNDE“.
Mit Dank an Marcel B.

Rekord-Beschwerden, Radiogeheimnisse, Hart aber fair

1. VICE News-Journalisten in der Türkei inhaftiert
(vice.com)
Seit dem 28. August werden die beiden britischen “Vice”-Journalisten Jake Hanrahan und Philip Pendlebury in der Türkei ohne offizielle Anklage festgehalten. Jetzt müssen sie vor Gericht erscheinen; ihnen wird vorgeworfen, in “terroristische Aktivitäten” des sogenannten Islamischer Staats verwickelt zu sein. NGOs wie Amnesty International und PEN International nennen die Vorwürfe “bizarr”.

2. Rekord-Beschwerden zu “Krone”-Foto mit toten Flüchtlingen
(derstandard.at)
Beim österreichischen Presserat sind bis gestern Mittag 170 Beschwerden zum Foto der “Kronen Zeitung” eingegangen, das die erstickten Flüchtlinge in einem LKW-Laderaum zeigt — so viele wie noch nie zu einer einzelnen Veröffentlichung. Auch dem deutschen Presserat liegen inzwischen Beschwerden vor, da “Bild” und andere Medien das Foto ebenfalls verwendeten.

3. Die Medien und ein närrischer alter Mann
(evangelisch.de, Frank Lübberding)
Frank Lübberding ärgert sich über die Medien, die vor Kurzem noch über Günter Grass den Kopf schüttelten, als der eine “zwangsweise Einquartierung von Flüchtlingen in Privatwohnungen ins Spiel” brachte, und heute große Flüchtlingskampagnen auf ihren Titelseiten bringen: “Aber die gleichen Medien, die noch vor wenigen Monaten die Anmerkungen von Grass als die eines senilen alten Mannes deklarierten, tröten jetzt in dessen Horn, ohne es allerdings zu bemerken.”

4. 5 echte Radiogeheimnisse, mit denen Radiomacher Euch Hörer verarschen
(fair-radio.net)
Nachdem Buzzfeed eine etwas scherzhafte Liste mit 22 Geheimnissen von Radio-Moderatoren veröffentlicht hat, legt Fair-Radio fünf wirklich fiese Tricks nach: wie Fake-Skandale, vorgetäuschte Live-Schalten oder Schleichwerbung.

5. Schönenborn lässt Plasberg-Sendung wieder in Mediathek
(kress.de, Bülend Ürük)
WDR-Fernsehchef Jörg Schönenborn hat entschieden, die umstrittene — und zwischenzeitlich gelöschte — “Hart aber fair”-Sendung wieder in die Mediathek zu stellen. Schönenborn reagierte damit auf die Kritik von außen: “Die Unabhängigkeit unserer Arbeit ist für uns das höchste Gut. Auch wenn der Vorwurf der Zensur oder Selbstzensur absolut unangemessen ist: Schon wenn der Anschein entsteht, diese Unabhängigkeit sei beeinträchtigt, belastet das unsere Arbeit.” Bülend Ürük kommentiert zum Hin und Her beim WDR: “Der Fall zeigt zumindest, dass öffentlich-rechtliche Führungskräfte bereit sind, ihre Entscheidung auch mal zu überdenken — wenn der Druck und Hohn nur groß genug ist.”

6. Der Mann, der das Fest in Heidenau möglich machte
(jetzt.sueddeutsche.de, charlotte-haunhorst)
Mit dem Fax-Gerät gegen den Freistaat Sachsen: Wie ein Jurastudent das Willkommensfest in Heidenau möglich machte.