Archiv für Juni 11th, 2015

Dirk Hoerens verrenkte Rentenrechnung

Dirk Hoeren ist bei der “Bild”-Zeitung der Mann für die Zahlen. Wenn die Redaktion mal wieder eine Statistik so verbogen haben will, dass sie damit Stimmung gegen Hartz-IV-Empfänger/Rumänen und Bulgaren/Griechen/ARD und ZDF machen kann, setzen sie ihren Europa-Chefkorrespondenten an die Sache. Heute hat Hoeren mal wieder die Griechen ins Visier genommen:

Okay, dann schauen wir uns das mal an.

Hoeren behauptet, schon jetzt würden …

rund 17 % der Wirtschaftsleistung […] in Griechenland allein für die Altersgelder aufgewendet — zweithöchster EU-Wert (hinter Italien), errechnete der IWF. Das sind 42 Milliarden Euro.

Stimmt. Doch die 17 Prozent sagen nichts über die angeblich unbezahlbaren griechischen Renten aus. Wenn ich im Monat 300 Euro verdiene und davon 90 Prozent für die Miete ausgebe, bedeutet das nicht, dass die Wohnung überteuert ist, sondern mein Einkommen recht niedrig. Soll heißen: Der relative Anteil der Rentenzahlungen ist in Griechenland auch deswegen so hoch, weil er sich an einer krisengebeutelten Wirtschaftsleistung bemisst; und nicht nur, weil der Staat eine Luxusrente nach der anderen spendiert.

Daneben unterschlägt Dirk Hoeren einen noch wichtigeren Aspekt: Die hohen Rentenkosten entstehen in Griechenland auch, weil es dort mehr alte Menschen als anderswo gibt. 20,5 Prozent der Griechen sind 65 Jahre und älter — der dritthöchste Wert in der Eurozone.

Weiter schreibt Hoeren:

Die Durchschnittsrente liegt in Griechenland bei 960 Euro, in Deutschland bei 792 Euro (FAZ).

Die Angabe zur deutschen Durchschnittsrente dürfte in etwa stimmen: Laut Deutscher Rentenversicherung lag sie Ende 2013 bei 682 Euro in Westdeutschland und 801 Euro in Ostdeutschland (PDF).

Bei der griechischen Durchschnittsrente ist es hingegen deutlich komplizierter, an belastbare Zahlen zu kommen, was vor allem am aufgeblähten System aus 133 Pensionsträgern liegt. Hoeren bezieht sich bei seinen 960 Euro auf einen Artikel der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, der sich wiederum auf einen Artikel aus der “Welt” bezieht, der sich auf Angaben aus “Verhandlungskreisen in Brüssel” bezieht. Zwei Tage, nachdem Hoerens Kronzeugentext in der “FAZ” erschienen ist, musste die Redaktion enorm zurückrudern:

Es gibt keine aktuellen Berichte der EU-Kommission oder des Internationalen Währungsfonds über das griechischen [sic] Rentensystem und die aktuelle Höhe der Rentenzahlungen. Dennoch kursieren in der deutschen Debatte Zahlen über die Renten in Griechenland, die Vorurteile über „Luxusrenten“ zu bestätigen scheinen, aber die griechische Wirklichkeit nicht wirklich abbilden.

Und diese Vorurteile befeuert Dirk Hoeren selbst zweieinhalb Monate nach der “FAZ”-Klarstellung zu den 960 Euro fröhlich weiter.

Deutlich andere Zahlen zur durchschnittlichen griechischen Rente nennt aktuell die “Financial Times”: Sie spricht von 700 Euro, dazu gebe es eine freiwillige Zusatzrente, die durchschnittlich 170 Euro pro Monat betragen soll. Rund 45 Prozent der griechischen Renter sollen weniger als 665 Euro monatlich bekommen und somit unter der Armutsgrenze liegen. Auch die Zahlen der “Financial Times” sind natürlich mit Vorsicht zu betrachten.

Der nächste Punkt, den Dirk Hoeren bei der “Griechen-Rente” anprangert:

Etwa zwei Drittel der griechischen Senioren bekommen zwei Renten gleichzeitig, in Deutschland sind es nur knapp 20 % (z. B. Witwenrenten).

Die damit angedeutete — vermeintliche — Ungerechtigkeit ergibt sich unter anderem aus dem bereits erwähnten 133-Pensionsträger-System. Wenn Griechen durch verschiedene Tätigkeiten mehrere Rentenansprüche erworben haben, die von unterschiedlichen Trägern verwaltet werden, werden ihnen auch mehrere Renten gleichzeitig ausgezahlt. Gleiches gilt, wenn sie für freiwillige Zusatzrenten eingezahlt haben und diese nun bekommen oder ihnen Witwenrenten zustehen.

Hoeren poltert weiter:

Das griechische Rentenniveau liegt bei 63% des Bruttolohns, bei uns sind es 48%.

Hierbei verschweigt er, wie sich in Griechenland in der Regel das Einkommen zusammensetzt. Einen großen Teil bilden nämlich Zuschläge, im öffentlichen Dienst mitunter sogar den größeren. Die Rente bemisst sich aber am Grundgehalt. Deren Anteil ist dadurch scheinbar hoch; bezogen auf das gesamte Gehalt relativiert sich das aber wieder.

Den krönenden Abschluss seines gesammelten Unfugs hat sich Dirk Hoeren aber fürs Ende seines Artikels aufgehoben:

Wegen der vielen Frühpensionen beträgt das tatsächliche Durchschnitts-Rentenalter in Griechenland 56,3 Jahre. Deutsche Rentner gingen vergangenes Jahr im Schnitt mit 64 Jahren aufs Altenteil.

Eine Quellenangabe für die 56,3 Jahre gibt’s im “Bild”-Text nicht. Auf Nachfrage reagierte Hoeren heute so:

Die Tabelle, die er seinem Tweet angehängt hat, stammt aus einem aktuellen Reformvorschlag der griechischen Regierung (PDF). In der linken Hälfte (“PS Δημóσιο”) gibt sie an, dass sie für das Jahr 2016 im öffentlichen Dienst ein durchschnittliches Renteneinstiegsalter von 56,3 Jahren anpeilt.

Also: das angepeilte Renteneinstiegsalter für den öffentlichen Dienst. Dirk Hoeren macht daraus das aktuelle Renteneinstiegsalter aller Griechen.

Dass der Wert so niedrig ist, weil er beispielsweise Soldaten und Feuerwehrmänner einrechnet, die regelmäßig früher mit ihrem Dienst aufhören, und weil er die Frühverrentung Tausender Staatsdiener im Zuge der Sparauflagen beinhaltet, interessiert Dirk Hoeren nicht. Ebenso wenig, dass vier Spalten weiter rechts das für 2016 anvisierte Renteneinstiegsalter bei der größten Rentenversicherung für Angestellte in der Privatwirtschaft mit 60,6 Jahren angegeben wird. Im Gegenteil: Er packt die knackigen 56 Jahre in die Dachzeile seines Artikels:

Da es noch einige weitere griechische Versicherungsträger gibt, handelt es sich aber auch bei den 60,6 Jahren nicht um das durchschnittliche Renteneintrittsalter aller Griechen. Das gab die OECD 2012 (Excel-Tabelle) mit 61,9 Jahren bei Männern und 60,3 Jahren bei Frauen an. Nun liegt bei Dirk Hoerens Altersangaben aber nicht nur das “Durchschnitts-Rentenalter in Griechenland” (er meint das Renteneintrittsalter) völlig daneben, sondern auch das in Deutschland. Die 64 Jahre hat er nach eigener Angabe von der “Deutschen Rentenversicherung”:

In der Statistik “Rentenversicherung in Zahlen 2014” (PDF) findet man tatsächlich ein “Rentenzugangsalter” von 64,1 Jahren. Dieser Wert bezieht sich allerdings nur auf die Personen, die wegen ihres Alters in Rente gegangen sind. Rechnet man diejenigen hinzu, die beispielsweise aufgrund einer Krankheit früher ihre Arbeit aufgeben musste, ergibt sich ein Renteneinrittsalter von 61,3 Jahren. Diese Angabe deckt sich in etwa mit der der OECD von 2012 (Männer: 62,1 Jahre, Frauen: 61,6, Jahre).

Wenn man es genau betrachtet, ist der Unterschied zwischen dem griechischen und dem deutschen Renteneintrittsalter also gar nicht mehr so groß. Wenn man es genau betrachtet, ist es aber auch viel schwieriger, den Hass gegen die Griechen zu schüren:

Mit Dank an Michalis P.!

“Bild” zimmert aus alten Stühlen historisches Mobiliar

„Bild“-Reporter Kolja Gärtner treibt sich für seine irren und bizarren Geschichten normalerweise in den Gerichtssälen Hessens herum, für seine neuesten Knaller hat er sich aber mal nicht mit kranken Killern oder metzelnden Messer-Mördern beschäftigt, sondern mit vergleichsweise edlen Dingen.

Auf einer Auktionsseite für ausgemustertes Behörden-Eigentum stieß er nämlich auf das hier:

Voller Ehrfurcht berichtet der Reporter:

An diesen Tischen und auf diesen Stühlen wurde hessische Geschichte geschrieben: Der Landtag versteigert 50 Möbelstücke aus der Frühzeit unseres Bundeslandes.

Am 1. Dezember 1946 trat die hessische Landesverfassung in Kraft – Geburtsstunde des Landes. Vermutlich im Folgejahr schaffte der Landtag die jetzt zum Verkauf stehenden Stücke an. (…)

Historische Stücke, die wohl von Politik-Legenden wie Georg-August Zinn (SPD, 1901-1976, Ministerpräsident 1959 – 69), Holger Börner (SPD, 1931-2006, Ministerpräsident 1976-87), Walter Wallmann (CDU, 1932-2013, Ministerpräsident 1987-91) und Joschka Fischer (67, 1985-87, erster grüner Minister) genutzt wurden.

(Wo hier gerade so schön mit Zahlen geworfen wird: Zinn war nicht von 1959 bis 1969 Ministerpräsident, sondern von 1950 bis 1969, aber das nur am Rande.)

Anders gesagt: Wer diese Exemplare erwirbt, kann …

Sitzen wie Georg-August Zinn, tafeln wie Joschka Fischer

So jedenfalls die Version der „Bild“-Zeitung.

Der hessische Landtag, von dem die Möbel kommen, erzählt die Geschichte allerdings ein wenig anders:

Wiesbaden – Entgegen der Berichterstattung der Bild Zeitung handelt es sich bei den (…) angebotenen Möbelstücken nicht um historisches Mobiliar.

Die 39 Stühle und 11 Tische wurden 1947 angeschafft und zunächst in der damaligen Kantine verwendet. Nach der Auflösung der Kantine (ca. Mitte der siebziger Jahre) wurden die Möbel für verschiedene Zwecke im Landtag verwendet, unter anderem als Mobiliar für Sitzungsräume und als Büroausstattung. Eine besondere Nutzung durch bekannte Landespolitiker wie in dem Artikel dargestellt ist nicht bekannt oder belegbar.

Auch sonst klingt die offizielle Version irgendwie nicht mehr ganz so romantisch:

Die Möbel sind aufgrund ihrer langjährigen Verwendung abgenutzt und insbesondere die Stühle im Holzwerk nicht mehr stabil. Zudem entsprechen die Stühle nicht den heutigen Anforderungen an Sitzmöbel für Besprechungsräume oder als Büroausstattung.

Aus diesem Grund wurden die Möbel zur Aussonderung freigegeben. Das Landesamt für Denkmalpflege hat im Zuge des Aussonderungsverfahrens mitgeteilt, dass die Ausstattung in der Nutzungs- und Baugeschichte des Stadtschlosses keine nachhaltige Phase darstellt und somit keinen historischen Wert hat.

Tja.

Doch von so doofen Fakten lässt sich „Bild“ freilich keine Story kaputtmachen: Der Text ist heute, zwei Tage nach der Richtigstellung des Landtags, immer noch unverändert online.

Von diesem ganzen Recherchegedöns scheint “Bild”-Mann Gärtner aber ohnehin nicht viel zu halten. Der Landtag schreibt noch:

Vor der Berichterstattung hat es keine offizielle Anfrage bezüglich des historischen Wertes des Mobiliars bei der Pressestelle des Hessischen Landtags gegeben.

Mit Dank an den Hinweisgeber.

Apple, Angst, Alfred Neven DuMont

1. “Josef K. im Hubschrauber”
(taz.de, Ulrich Schulte)
Journalisten am G7-Gipfel auf Schloss Elmau 2015: “Alles da, alles einfach, alles toll. Es gab Geschenke, G7-Gipfel-Schlüsselanhänger, G7-Gipfel-Kugelschreiber, einen Rucksack samt Gipfellogo und bayerischem Wappen. Es gab ein sagenhaftes Buffet im Cateringzelt, das von morgens bis abends Schweinebraten, Knödel und frische Salate anbot. Es gab einen stylischen Entspannungsraum mit einer Cocktailbar, Sitzsäcken, Tischfußball und Großbildschirmen.” Siehe dazu auch “The G7 media centre – a German sausage factory of news” (theguardian.com, Charlie Skelton, englisch).

2. “Pressefreiheitsrankings unter der Lupe”
(de.ejo-online.eu, Anna Carina Zappe)
Anna Carina Zappe analysiert Stärken und Schwächen fünf verschiedener Rankings der Medienfreiheit.

3. “‘Unsere Patienten gelten als verrückt, nicht als krank'”
(faz.net, Lucia Schmidt)
“Der mediale und gesellschaftliche Umgang mit der Flugzeugkatastrophe hat die Entstigmatisierung von psychisch kranken Menschen um Jahre zurückgeworfen”, sagt Psychiatrieprofessor Andreas Reif über die Folgen des Absturzes von Germanwings-Flug 9525: “Psychische Erkrankungen sind häufig. (…) Diese Patienten dürfen in keine Ecke gedrängt werden, das verschlechtert ihre Prognose und Versorgung dramatisch, das wiederum hat Auswirkungen auf unsere gesamte Gesellschaft.”

4. “Raus aus dem Hamsterrad: Warum wir nicht mehr über Apple-Events berichten”
(basicthinking.de, Tobias Gillen)
Das Blog Basicthinking.de fährt die gut geklickte (Live-)Berichterstattung über Apple-Events zurück: “Das alles bedeutet natürlich nicht, dass es auf BASIC thinking nie mehr Apple-Themen zu lesen geben wird. Aber wir haben uns von diesem Hype-Denken verabschiedet und werden uns Produkten mit der nötigen Ruhe und Distanz widmen, genauso wie wir es mit anderen Dingen und Themen auch machen (über Microsoft-Präsentationen u.ä. berichten wir auch nicht im Liveticker).”

5. “Reden der Trauerfeier für Alfred Neven DuMont”
(ksta.de)
Fünf Reden zum Tod von Alfred Neven DuMont. Hans Werner Kilz: “Natürlich konnte – und wollte – er in seinen Blättern verhindern, was ihm nicht in den Kram passte. ‘Ich hätte nicht gerne eine Zeitung führen wollen, wo ich mich am Schluss nicht hätte durchsetzen können’, sagte er ganz offen. Redaktionsstatute, die Verleger-Entscheidungen dem Votum der Mitarbeiter unterwarfen, fand er ein Gräuel. Aber er ließ andere Meinungen gelten, sie mussten nur gut begründet sein. Wer sauber recherchiert hatte, brauchte Interventionen nicht zu fürchten.”

6. “Die Angstgesellschaft”
(internet-law.de, Thomas Stadler)
Siehe dazu auch “Informationsfreiheits-Ablehnung des Tages: Der Bundesnachrichtendienst antwortet uns überhaupt nicht mehr” (netzpolitik.org, Andre Meister).